Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
Vom Netzwerk:
von Norwich hatten danach in ihrer Stadt nie mehr Frieden gefunden, und ein Jahrhundert später hatte die Juden von Lincoln dasselbe Schicksal ereilt: Man beschuldigte sie, ein Kind ermordet, sein Blut in einer Schale aufgefangen und in den Teig für die Matze gemischt zu haben. In Scharen wurden Männer zum Galgen geschleppt, während ihr Besitz in die Hände des Königs überging.
    Heftige Übelkeit befiel Vyves. Er erinnerte sich daran, die Geschichte gehört und sofort wieder verdrängt zu haben: Das tote Kind war in einem Brunnen gefunden worden. Wie fand man Tote in Brunnen, die hundertfünfzig Fuß tief waren? In seinem Schädel hallte eine Stimme, die zählte: Sieben. Acht. Neun. Zehn.
    Gerade als er glaubte, zur Seite zu fallen, fühlte er Deborahs Arme um die Schultern und dann ihr Knie, das ihn schmerzhaft in der Nierengegend traf. »Komm doch zu dir, Vyves! Wir müssen etwas tun!«
    Das mussten sie in der Tat. All jene Fälle waren Auftakte zu Pogromen gewesen, zu brennenden Häusern und Synagogen, gefolterten und ermordeten Menschen, durch die Straßen gejagten, vertriebenen Familien. »Du hast recht«, presste Vyves heraus. »Wir müssen ihn wegschaffen!«
    Sie rappelte sich auf die Füße und nickte tapfer. Streckte den Arm aus und wies durch die Gasse zurück. »In den Brunnen«, murmelte sie. »Er wiegt ja nicht viel, zu zweit schaffen wir’s.«
    Die Stimme in seinem Kopf nahm ihre Worte auf. In den Brunnen. In den Brunnen. Sieben. Acht. Neun. Zehn. Das brachte ihn wieder zu sich. »Wir können das nicht tun, Deborah«, hörte er sich beinahe ruhig sagen. »Ich hätte einen solchen Vorschlag nie machen dürfen. Er ist ein Mensch, und seine Familie muss ihn begraben dürfen.«
    »Es ist Dick!«, schrie sie auf.
    »Was für ein Dick?«
    »Dick, der Gerberlehrling. Er kommt zu uns und kauft Seife. Wenn sie ihn hier finden, werden sie sagen, es war Josua, der ihn ermordet hat!«
    Auch damit hatte sie recht. Und es war gut möglich, dass der Verdacht nicht nur auf das Haus des Seifensieders, sondern auch auf das der Crespins fiel, die ebenfalls mit den Gerbern Handel trieben. Dennoch konnte Vyves nicht hingehen und einen halbwüchsigen Jungen, einer Mutter Sohn, der auf viehische Weise getötet worden war, in einen Brunnen werfen, und Deborah konnte es ebenso wenig. »Wir müssen hinüber und einen Constable holen«, sagte Vyves, stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Irgendeinen Wachmann, der das Nötige veranlasst. Kannst du hier bei ihm bleiben, während ich jemanden suche? Ich beeile mich.«
    Deborah nickte. Mit knochentrockenen Lippen küsste er sie auf die Wange und rannte los.
    Sie hatten das Richtige getan, was immer auch geschehen würde. Mit der Nachtwache, die Vyves in der Cheapside auftrieb, strömten Scharen von Menschen ins jüdische Viertel, das inzwischen seinerseits zum Leben erwacht war. Klein und verloren harrte Deborah inmitten der anderen bei dem Toten aus. Die christlichen Schaulustigen, zumeist Frauen, die auf dem Weg zum Markt gewesen waren, warfen Schlamm und Steine und wünschten Vyves, Deborah und allen mörderischen Juden von London die Hölle an den Hals. Deborah krümmte sich noch mehr zusammen, aber sie verließ ihre Stellung nicht.
    »Lasst das Mädchen gehen!«, sagte Vyves zu dem Wachmann, einem müden, beleibten Burschen, der die Nacht in den Straßen verbracht und gehofft hatte, bald daheim in seinem Bett zu sein. »Ich bitte Euch. Verhaftet mich, aber tut ihr nichts an.«
    Der Mann, der einige der Umstehenden herbeigewinkt hatte, damit sie ihm mit der Bergung des Toten halfen, hob den Kopf und suchte seinen Blick. Er hatte verkniffene Äuglein und ein von kraterhaften Narben entstelltes Gesicht. »Du hast mir doch erzählt, du kennst den Jungen nicht«, sagte er. »Warum soll ich dich also verhaften, Jude? Nimm dein Mädchen, und troll dich – und wenn ich du wäre, nähme ich die Beine in die Hand.«
    Vyves vermochte nicht zu glauben, was er gehört hatte. Deborah vermochte es. Sie sprang auf, packte Vyves hart am Arm und zerrte ihn durch die Menge.
    »Danke!«, rief er dem Mann zu. Sogleich schämte er sich. Weshalb bedankte er sich dafür, dass er als unbescholtener Mann seines Weges ziehen durfte? Wie tief war er bereits erniedrigt, dass er sich wegen einer Tat schuldig fühlte, zu der kein Teil seines Wesens fähig war? Eine Handvoll Schlamm traf ihn an der Wange, gleich darauf flog ein Stein vor seiner Brust vorbei. Deborah begann zu rennen und

Weitere Kostenlose Bücher