Kains Erben
würde sie bleiben und für seinen Hausstand sorgen. Adonai gebot, ein Mädchen jung in die Ehe zu geben, und diese herrliche Blume hatte um seinetwillen ihre Jugend fast verscherzt. So ging es nicht weiter! Wenn er keinen Mann für sie finden konnte, musste er zu dem Versprechen stehen, das unausgesprochen gegeben worden war. Auf einmal fand er, er dürfe an ihr nicht länger schuldig werden, an ihr und an Gideon, dem das Schicksal der Schwester vermutlich ebenso auf dem Gewissen lastete. »Deborah«, sagte er, doch schon bei der letzten Silbe schien seine Stimme zu verebben. Wie so oft hielt etwas ihn ab.
»Was ist?«
»Ach – nichts. Soll ich dich heute etwas früher abholen? Meine Mutter und Frau Crespin würden sich freuen, wenn du ihnen mit dem Tisch hilfst.«
Sie löste sich von ihm und ging ein paar Schritte voraus, wobei ihr Fuß in eine Pfütze tappte. Schwärzliches Wasser durchdrang ihren dünnen Schuh und bespritzte ihr den Rock. Wie enttäuscht sie war, ließ sich nicht übersehen. Immer beherrschte sie sich, stand den anderen bei und schluckte den eigenen Kummer hinunter, aber auch ihre Kräfte würden irgendwann verbraucht sein. Vyves hob die Stimme, um Deborah zurückzurufen, aber was hätte er ihr sagen sollen, um sie zu trösten?
Sie sah sich nicht nach ihm um, sondern bog um die Häuserecke in die Colechurch Lane ein. Kaum war sie verschwunden, schrie sie auf.
»Deborah!« Vyves hatte sie nie zuvor schreien hören und wusste sofort, dass der Grund dafür grauenhaft sein musste. Kopflos rannte er durch die Pfützen und den durchweichten Boden und fand sie auf Händen und Knien im Schlamm. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, der sie gestoßen haben konnte. »Deborah!«
Sie wandte sich um. Ihr schönes Gesicht war vor Entsetzen verzerrt. Vyves sprang hinzu und sah im grauen Morgenlicht, was vor ihr auf der Straße lag. Es war ein menschlicher Körper. Ein Kind. So grauenvoll zugerichtet, dass die Frage nach Tod oder Leben sich erübrigte.
Er kniete sich ebenfalls in den Schlamm und schob sie zurück, versuchte, sich zwischen sie und den Leichnam zu drängen. Im selben Moment begannen hinter den letzten Häusern des jüdischen Viertels die Glocken der Kathedrale zu läuten. Der Glöckner von St. Paul rief die Gläubigen zum Morgengebet. Adonai, bewahre uns!, flehte Vyves im Stillen. Wenn die Christenstadt zum Leben erwachte, ehe sie einen Weg gefunden hatten, ihrer Lage Herr zu werden, dann konnte ihnen wahrlich nur noch Gottes Gnade helfen.
Deborah dachte vermutlich das Gleiche. »Was sollen wir nur tun, Vyves? Was sollen wir nur tun?« Sie lehnte sich an seinen Rücken. Ihr Körper krümmte sich vor und zurück, als würge sie.
Was sollten sie tun? Er musste sich zwingen, das tote Kind anzusehen. So klein, wie Vyves auf den ersten Blick angenommen hatte, war es nicht. Es war ein Junge von zehn oder zwölf Jahren, und er trug keinen Fetzen Stoff am Leib. Aus einer Wunde in der Seite musste er stark geblutet haben, doch der Regen hatte das Rot längst zu blassem Rosa verdünnt. Wies er noch andere Wunden auf? Vyves wagte kaum, den Blick danach zu wenden. Er fürchtete zu wissen, was er sehen würde, und hoffte dennoch wider alle Vernunft, es werde schon so schlimm nicht sein.
Es war so schlimm. Hände und Füße des Jungen waren durchbohrt, und um seine Stirn zog sich ein Ring von blutigen Stichwunden. Es war seinen Zügen anzusehen, auf welch bestialische Weise er umgekommen war: Er war an ein hölzernes Kreuz geschlagen und dort einem qualvollen Tod überlassen worden wie Jesus von Nazareth.
Fasse dich, beschwor sich Vyves, derweil Blutstrom und Herzschlag sich in seinen Ohren überschlugen. Finde eine Lösung, ehe die, die das auf dem Gewissen haben, Alarm schlagen und ihre Häscher schicken. Von der christlichen Seite.
Dass der tote Junge Christ war, hatte Vyves mit einem Blick erkannt, obwohl er ihn lieber bis zum Nabel zugedeckt hätte, ohne ihn durch sein Gaffen noch tiefer zu entwürdigen. Seine Mörder hatten ihn hierhergeschleift und wie Abfall im Straßenschlamm liegen lassen, um den Juden die Schuld zuzuschieben.
Vorfälle dieser Art hatte es in anderen Städten bereits gegeben. Schon im vergangenen Jahrhundert waren die Juden von Norwich angeklagt worden, ein christliches Kind – einen Gerberlehrling in etwa demselben Alter – gekreuzigt zu haben, und noch immer pilgerten Scharen zum Schrein des jungen William, um dem angeblichen Märtyrer zu huldigen. Die Juden
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