Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
Vom Netzwerk:
Hoffnung bestand, war für Vyves nahezu ein Kinderspiel. Sie war nicht mehr bei Bewusstsein, wofür er Gott dankte, da sie dadurch vor weiteren Schmerzen geschützt war. Er hob sie auf und kämpfte sich den Weg zurück. Fast schien es ihm, als teile sich vor ihm das Flammenmeer.
    Im Nu waren sie von Menschen umringt, die ihm das Kind aus den Armen rissen, jubelten und Kübel voll Wasser über ihm leerten. Vyves ging in die Knie. Auch er würde nicht mehr lange bei Bewusstsein bleiben, er hatte jeden letzten Rest von Kraft verbraucht. Als er zur Seite kippte, fühlte er, dass Hände ihn auffingen und ihn behutsam auf die durchweichte Straße betteten. Der Schlamm war kühl und wie Balsam. Nur eines musste er noch wissen, dann würde er Gott danken und schlafen.
    Wie durch dicke Schichten von Stoff vernahm er Deborahs Stimme, die weinte und seinen Namen aussprach. »Vyves, Vyves, Vyves.« Sie küsste seine Wange, fast ohne seine Haut zu berühren.
    »Lebt sie?«, fragte Vyves.
    »Ja, du Goldstück, du wundervoller Mann! Sie lebt und wird wieder gesund. Dank dir.«
    Dank Gott.
    Deborahs Hände umfassten seinen Kopf wiederum so behutsam, dass er sie kaum spürte. »Schlaf jetzt, du Liebster, mach dir um nichts mehr Sorgen. Isaac und Aaron holen ihren Karren, damit schaffen wir dich nach Hause, und der Arzt kommt auch.« Sie weinte. Dass bei dem feuchten Wetter kein Feuer durch den Laugenkocher ausgebrochen war, sondern dass jemand es gelegt haben musste, wusste sie so gut wie er – und auch dass dies erst der Anfang war. »Es wird alles gut, Vyves. Mach dir nur keine Sorgen.«
    »Deborah bat Oved«, murmelte er kaum noch hörbar. »Wenn ich wieder halbwegs auf meinen Beinen stehen kann – wirst du dann meine Frau?«

19
    S
o lange waren sie unterwegs gewesen, so oft aufgehalten worden, so oft von der Straße abgewichen, um einen Umweg zu nehmen, dass Amicia sich nicht mehr vorstellen konnte, jemals anzukommen. Vielleicht existierte gar keine Stadt namens London. Vielleicht entsprang sie wie so vieles nur der Sehnsucht, irgendein Ziel zu haben, das den Weg weniger öde und beschwerlich machte.
    In Amicia war die Sehnsucht nach einem Ziel erloschen, denn ihr Weg mochte beschwerlich sein, doch er war alles andere als öde. An Matthews Seite ritt sie durch ein Land, das trotz des kläglichen Frühlings in Blüte stand, und obgleich sie schwiegen, fühlte sie sich ihm nah. Ein wenig war es wie in der Zeit, in der sie ihn gepflegt hatte: Weil sie kaum miteinander sprachen und noch immer versuchten, sich das Fragen zu verbieten, blieben sie Fremde, aber zwischen ihren Körpern gab es keine Spur von Fremdheit. Wenn sie ihn ansah, während er ruhig im Sattel saß und sein Pferd lenkte, regte sich ein Lachen in ihr und unbändige Freude auf die Nacht.
    Sie schämte sich, weil Magdalene so heftige Schmerzen litt und womöglich nie wieder gesund werden würde, sie aber insgeheim dankbar für die Krankheit des Mädchens war, da sie Matthew veranlasste, in festen Häusern Quartier zu suchen. Und bei all den festen Häusern gab es Ställe und Schuppen und damit einen Unterschlupf für zwei, die ihre Seligkeit vor der Welt verborgen halten wollten.
    Irgendwann hatte sie aufgehört, sich zu fragen, was sein würde, wenn sie London erreichten. Sie würden es nie erreichen, sondern ewig zwischen Zielen, die Luftschlösser waren, umherziehen, wie es zu Menschen ohne Heimat passte. Einzig beieinander wären sie zu Hause – wie der namenlose Hund, der glücklich war, solange er in der Nähe seines Herrn sein durfte.
    Dann aber trafen sie an einem Nachmittag, der hell und mild war, auf den Fluss, der als breites, dunkel schillerndes Band das Land durchzog. Tief lag er in seinem Bett, bildete hier und da einen Streifen Schilf oder Strand und floss kräftig voran wie einer, der ungeduldig erwartet wurde. Nicht selten trieb ein Boot oder Schiff in schneller Fahrt an den gemächlich zockelnden Reisenden vorüber.
    »Sieh dir das an, mein Lenchen!«, jubelte Timothy. »Ist das eine Pracht? Als Junge, ehe mein Vater mich den Mönchen gab, war ich der beste Fischfallenflechter von Smallbrook. Ich wünschte, ich könnte hier eine flechten – wir hätten ein Festmahl, das uns vergessen ließe, dass Samstag ist und wir zu fasten haben.«
    Noch begeisterter betrug sich der Hund, der die Uferböschung hinunterstürmte und den Fluss anbellte. »Wenn du unbedingt mit einer Falle fischen willst, dann tu es jetzt und hier«, sagte Matthew zu Timothy.

Weitere Kostenlose Bücher