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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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Schlaf.
    Die Abtei und der Palast von Westminster bildeten den ersten Vorposten der Stadt, den Amicia zu sehen bekam. Gebettet in ein Nest von Häusern waren sie auf eine Art Halbinsel gebaut, von dem Fluss und zwei Bächen zu drei Seiten umgeben.
    Matthew führte seinen Tross weiträumig um die Gebäude herum, aber Amicia erhaschte dennoch einen Blick auf die hohen Türme der Abtei, die unter Henry iii. von Grund auf erneuert worden war. Henry sei ein frommer König gewesen, hatte Randulph ihr erzählt. Trotz all der Tumulte während seiner Regierungszeit habe er es sich zur Herzensangelegenheit gemacht, die Abtei Edwards des Bekenners zu neuem Glanz und neuer Größe zu führen. »Aber ist das nicht falsch?«, hatte Amicia gefragt. »Gott verlangt doch nicht nach Glanz und Größe – hätte er das Geld nicht den Armen geben sollen?«
    »Das hast du brav gelernt«, hatte Randulph erwidert und für den Bruchteil eines Herzschlags gelächelt. Dann hatte er ihr zu erklären versucht, dass nicht jeder fromme Mann in England die Überzeugung der Zisterzienser teilte, die ihre Kirchen schmucklos und ohne Türme wünschten, frei von Übermaß, Prunk und Eitelkeit. »Es gibt viele Wege zu Gott. Wir müssen unseren eigenen gehen und andere den ihren suchen lassen.«
    Übermaß, Prunk und Eitelkeit glaubte Amicia an der Fassade der Abtei von Westminster zu erkennen, und dennoch fand sie das erhabene Gotteshaus schön. Dicht dabei stand die Westminster Hall, in der der Führer der Rebellenbarone gegen den Willen des Königs ein Parlament einberufen hatte. Amicia wusste nur wenig darüber, da Randulph darauf beharrt hatte, derlei Wissen füge ihr Schaden zu. Sie vermochte trotzdem auf einmal, sich den König vorzustellen, der seiner Aufgabe in der Welt nicht Herr geworden war. Wohl zum Ausgleich hatte er seine Kirche so herrlich bauen müssen – wenn schon seine Macht auf Erden schwankte, so wollte er sie wenigstens dem Himmel lauthals verkünden.
    »Wir sind da!«, schnitt Timothys Stimme in ihre Gedanken. »Sieh doch, Lenchen, das da vorn ist London, es ist wirklich London!« Von Begeisterung überwältigt trieb er sein Pferd in Trab und schoss an Amicia und Matthew vorbei. Als er seinen Fehler bemerkte, drehte er reumütig um und entschuldigte sich. »Vergebt mir, Mylord. Es war nicht das Pferdchen, sondern mein Herz, das mir durchging. Welcher Bauernjunge träumt nicht davon, einmal London zu sehen, und mir, mir, mir ist es vergönnt!«
    »Reiß dich am Riemen, Mann«, verwies ihn Matthew und bedeutete ihm, sich wieder neben Magdalenes Maultierkarren einzureihen.
    Amicia schloss zu ihm auf und richtete den Blick nach vorn. Was sich ihren Augen darbot, ließ sich mit nichts vergleichen, das sie kannte. Sie hatte auf der Reise Siedlungen gesehen, in deren Kern die Häuser dicht beieinanderstanden, hier aber reihte sich Haus an Haus, so weit das Auge reichte. Dem Nordufer des Flusses schien eine wahre Flut von Gebäuden zu entspringen. In der Ferne erkannte sie die Umrisse einer Burg, einen mit Sumpfkalk geweißelten Donjon, der in der Sonne leuchtete. Noch mehr fesselten sie die unzähligen Kirchtürme, die allerorten wie Pilze aus dem Gewirr der Dächer ragten. London musste eine Stadt von außerordentlicher Frömmigkeit sein, wenn Gott hier in jedem Straßenzug zu Hause war.
    Der größte Turm überragte alles, schien seinen Schatten bis in den letzten Winkel des Häusermeers zu werfen. Wie konnten Menschen etwas errichten, das so hoch war, dessen Spitze dem Himmel so nah war?
    »Was ist das?«, rief Amicia und wies auf den Kirchturm, der aussah, als habe Gott selbst zwischen Himmel und Erde eine Brücke schlagen wollen.
    »St. Paul«, antwortete Matthew, ohne sich ihr zuzuwenden. »Die Kathedrale von London, die niemals fertig wird.«
    »Weshalb wird sie niemals fertig?«
    »Was fragst du mich? Solange sie hier steht, wird ständig daran gebaut. Vielleicht müssen die Londoner ja ihrem Schutzheiligen beweisen, dass sie zwischen all ihrer Geschäftemacherei noch an ihn denken.«
    »Aber es sind doch so viele Kirchen hier, die Stadt muss fromm sein wie sonst keine!«
    Endlich wandte er den Kopf und schenkte ihr ein müdes Lächeln. »Wie kann eine Stadt denn fromm sein? Es wohnen doch Menschen darin.«
    Sein Unterton verriet ihr, dass sie gut daran tat, keine Fragen mehr zu stellen. Er blickte wieder nach vorn, jeder Muskel, jede Sehne an seinem Leib war gespannt. Dass ihn etwas quälte, war unschwer zu erraten, und so

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