Kairos (German Edition)
C.
Nichts als Geschwätz. Oder die reine Wahrheit. Wie man es sah.
Und es war egal. Egal, wer Mthembi war, oder Rufus Bals. Auch gleichgültig, was die Außerirdischen wollten. Wichtig war, daß sie da waren und die Erde beschossen; daß das Leben aller auf dem Spiel stand, in dieser Sekunde.
Nein
, begriff Nazma schlagartig. Nichts stand mehr auf dem Spiel. Alles war entschieden. Nichts hatte jemals auf Messers Schneide gestanden.
Ex est.
Der Raum füllte sich weiter. Sie litt nicht an Klaustrophobie, aber erste Beklemmung aufgrund des Gedränges spürte sie schon. Hier war mehr los, registrierte Nazma schon panisch, als auf allen Konvents, an denen sie teilgenommen hatte, zusammen. Zuerst hatte sie wegen einer autoaggressiven Neigung geglaubt, alles wäre ein Traum, den sie für Realität hielt. Jetzt wachte sie wirklich auf. Ihr psychischer Schutzwall bröckelte. Sie sah überall Verzweiflung und Angst. Je länger sie hier war, desto schlimmer wurde es. Sie begriff schlagartig, was da auf sie zukam. Ihr war, als stünde sie vor einer heranrasenden Wasserwand und zählte runter bis zum Aufschlag.
„Wir müssen hier raus“, sagte sie zu Chloé. „Sofort.“
„Was, spinnst du? Ich muß das sehen, ich muß wissen, was passiert!“
„Wir wissen doch, was passiert, Chloé.“ Sie sprach so ruhig wiemöglich, aber man merkte ihr an, wie schwer es ihr fiel. Sie zeigte auf das Holo, was ein animiertes Dornschiff zeigte. „Das sind die Bösen. Die Guten sind wir. Die Guten verlieren und sterben, das passiert.“ Sie wandte sich ab.
„Was quatschst du? Jetzt warte mal!“
„Ich jedenfalls spare mir die Details.“
„Jetzt stopp mal. Warte doch!“
„Ich sehe zu, daß ich hier wegkomme.“
„Wohin...?“
„Egal, wohin.“
„Es heißt, die Leute laufen in die Parkhäuser, Tiefgaragen, U-Bahn-Tunnel und Keller der Innenstadt. Und wohin wollen wir, in die Aula? Ins Audimax?“
Keine Antwort.
„Nazma!“
Was Chloé vorhatte, war ihr egal. Sie konnte nicht mehr klar denken. Alles verschwamm vor ihr. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie mußte hier weg, machte kehrt und bahnte sich einen Weg durch den Menschenauflauf. Wußte, daß Chloé ihr nicht folgen würde. Gleichviel. Sie hörte Chloé etwas rufen und schob sich weiter vor. Auf halbem Weg zum Ausgang stiegen ihr Tränen in die Augen. Es fiel niemandem auf.
Dann war sie draußen. Der Regen hatte nachgelassen. Auf dem Rasen tummelten sich die Menschen. Details nahm sie keine wahr. Niemand nahm Notiz von ihr. Blut rauschte in ihrem Kopf. Kurz mußte sie stehenbleiben, in die Hocke gehen, ihrem Kreislauf Zeit zur Erholung geben – dann lief sie los. Sie hatte kein Ziel vor Augen, rannte einfach an den Leuten vorbei. Laufen war das Beste, was ihr einfiel. Als sie das Dach des Campus-Sportkomplex, dem Coliseum, vor sich sah, wußte sie, daß sie instinktiv die Entscheidung getroffen hatte, dorthin zu gelangen. Im Rennen warf sie erneut einen Blick auf ihr Pad, das noch immer nichts anzeigte. Sie machte sich nichts vor: ein Wunder, wenn in all den Wirren ihr Pad sich geregt und eine Nachricht von Judith, Corey oder sonst wem gezeigt hätte. Daß ihr Pad stumm blieb, schien ihr nur natürlich – auch wenn es schlimm war.
Jemand rempelte sie an. Sie stürzte, blieb der Länge nach auf der nassen Wiese liegen. Ein gewisser Gedanke erfüllte sie und dicht darauf abgrundtiefe Angst davor, niedergetrampelt zu werden. Panik. Nazma schrie. Jemand trat ihr auf die Hand, es gab ein häßliches Knacken, als das Gelenk brach. Sie schrie weiter. EineFrau stürzte neben ihr auf die Erde, und jemand hievte sie wieder auf die Beine. Ein lichtschneller Blitz...
... Corey...
... rauschte vorbei und verschwand. Keine Zeit. Nazma blieb liegen. Trampelnde Füße. Alles drehte sich um sie her, wie bei einem Kaleidoskop. Texturen wurden zu Schattierungen, dann zu Kontrasten. Sie dachte:
Es gibt kein Entrinnen. Vor so etwas kann man nicht davonlaufen. Schließlich geht es um die Erde,
dann...
Kam sie hoch – nein, es muß heißen: Plötzlich war sie wieder auf den Beinen. Sie erinnerte sich nicht; auf einmal hatte sie festen Stand. Reglos, den ziellosen Blick einer Katatonikerin während eines Anfalls, nahm sie wahr, wie sich das Areal leerte. Nazma starrte nur. Bewegung, Hetze, Flucht erfüllte Leblosigkeit, ein gletscherartiges Phlegma.
Davonrennen oder sterben.
Nazma erkannte mit einem Mal und untypisch gefaßt die ästhetische Festigkeit, die hohe Absicht in der Flucht
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