Kairos (German Edition)
nur langsam voran. Die Türen waren zu schmal, die um Einlaß heischende Menge zu groß. Vorne wurde geschoben und gestoßen. Von hinten drängten mehr Menschen nach. Irgendwann durchschritt auch Nazma eines der Tore, ging durch einen mit grauem Linoleum ausgelegten, aus großen, weiß gestrichenen Blöcken gemauerten Gang und betrat die Halle mit der dunkelblauen Tartanbahn und dem zentralen Kunstrasenplatz, auf dem sich bereits viele Menschen drängten – mehrere hundert, vielleicht tausend, schätzte sie. Zu ihrer Erleichterung begann die Menge sich nach Betreten der Halle relativ gleichmäßig zu verteilen. Viele stiegen die Aufgänge zu den Oberrängen hinauf, setzten sich auf die Zuschauertribünen, Aluminiumgerüsten, die irgendwie unfertig wirkten, oder suchten sich freie Stelle auf dem Rasen, der Laufbahn oder vor den das Spielfeld begrenzenden Holo-Werbebanden.
Nazma sah sich, unschlüssig auf dem Rasen stehend, ständig um. Der Saal war über jeden praktischen Zweck hinaus groß. Nirgends ein bekanntes Gesicht. Ordinarien und Dekane verschiedener Fakultäten waren hier, verzagt umhertrottende oder auf dem Kunstgrün kauernde Frauen und Männer, die in den Vorlesungen immer so selbstbewußt, allwissend und weltgewandt gewirkt hatten, jetzt aber ebenso am Ende ihrer Vorstellungskraft angelangt waren, wie alle anderen. Die Schrecken, die die einfallenden Shumgona brachten, waren immer gleich verheerend.
Nazma ging langsam in irgendeine Richtung. Unwichtige Details bannten ihr Interesse. Sie ließ sich gerne von der großen Katastrophe ablenken. Sie sah hinauf. An der gewölbten Decke mit dem einen großen halbkugelförmigen Oberlicht hingen Fahnen und Wimpel. Schottlands Flagge, das weiße Andreaskreuz auf blauem Grund hing dort neben Union Jack, Edinburghs Stadtwappen, Universitätsbanner sowie der Flagge der Europäischen Union.
Nur Symbole auf einem Stück Stoff
, dachte Nazma.
Jetzt bedeutungslos. Alles ist dabei zusammenzubrechen.
Sich weiter umschauend – nach Leuten, die sie kannte, Dingen, Eindrücken, die ihr weiterhalfen –, kam ihr mit erschütternder Gewißheit jener Gedanke in den Sinn, daß es keinen Weg geben würde, den Invasoren Einhaltzu gebieten, daß im Licht der Wahrheit betrachtet eigentlich alles längst vorbei, aus war. Es bräuchte ein Wunder – eine ganze Reihe von Wundern – um das, was gegenwärtig geschah, heil zu überstehen. Sie glaubte nicht an Wunder. Alles um sie herum – sie selbst auch – versank in einem sich quälend langsam, aber unaufhaltsam drehenden Strudel aus alptraumhaft makaberen, aber leider wahren Ereignissen. Das Gewicht dieser Erkenntnis drückte sie weiter nieder. Ein schrecklicher Teufelskreis. Sie stöhnte auf.
Eine Lautsprecheransage folgte. Professor Rawlie Eamons, der Universitätsdirektor, wandte sich mit bebender Stimme an die Menge. Er mußte sich in einem der oberhalb der Zuschauerbühnen liegenden Räume für die lokalen und überregionalen Netzkommentatoren befinden, wahrscheinlich im Beisein seines Stellvertreters. Eamons erzählte irgend etwas, kaum wer hörte richtig hin. Durchhalteparolen, ein paar gutgemeinte Weisungen, die faktisch aber sinnlos waren. Er bemerkte irgend etwas von wegen Ruhe bewahren, davon, irgendwie solange durchzuhalten, bis das Militär ihnen Hilfe schickte und eine Strategie, wie man gegen die Außerirdischen vorzugehen hätte, gefunden wäre. Was sollte er auch anderes sagen? Angesichts ihrer prekären Lage gab es nichts, was er äußern oder tun könnte, um die Sache erträglicher oder weniger hoffnungslos zu machen.
Für Nazma waren seine Worte im besten Fall Platitüden, im schlechtesten blanker Unsinn. Da draußen gab es niemanden, der ihnen helfen konnte. Wer schon? Wirklich das Militär? Wenn es tatsächlich in achtundvierzig Stunden noch irgendwelche Soldaten in der Stadt geben sollte (was Nazma ehrlich bezweifelte), würden sie damit beschäftigt sein, ihre eigene Haut zu retten, um nicht selbst Opfer der Skulls zu werden.
Es gab keine Rettung, egal, was Eamons sagte oder hoffte. Da war kein symbolischer Generalschlüssel, kein Paßwort oder Mastercode – nichts. Wie zur Bestätigung dieses Gedankens, dröhnten, noch während Eamons sprach, weitere Kampfflieger über den Dom und in einiger Entfernung war das Schmettern neuer Explosionen vernehmbar. Blicke fuhren unwillkürlich hoch. Hinter dem riesigen Oberlicht rauschten graue Schatten rasend schnell vorbei. Noch mehr Unruhe im Inneren des Doms.
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