Kairos (German Edition)
Eamons verstummte abrupt, die Sprechanlage knackte geräuschvoll; wahrscheinlich, dachte Nazma, hatte Eamons vor Schreck das Mikrofon fallen gelassen. Dann wurden die Lautsprecher abgeschaltet.
Die Unruhe verstärkte sich. Die Stimmung stand kurz davor, inPanik umzukippen. Die traumatisierten Menschen gierten nach Anleitung, nach Beistand und Schutz. Nichts davon würde eintreten. Sie waren allein, hier gefangen mit all den anderen, mit sich selbst, ihren dunklen Gedanken.
Nazma behielt die Menge im Blick. Sie erschien ihr wie ein wildes Tier, das jederzeit außer Kontrolle geraten konnte. Wie sie selbst jederzeit außer Kontrolle geraten könnte. Immer wieder ruckte ihr Blick hoch zum Oberlicht, hinter dessen dickem Kunstglas immer wieder Schatten rasten. Dort oben tobte eine Schlacht, irgendwo dort oben geschahen weitreichende Dinge. Dort oben ... und hier unten wurde es immer voller. Menschen drängten unaufhörlich von außen nach. Das Geschiebe wurde immer stärker. Leute der Campus-Sicherheit und eilig einbestellte Freiwillige taten ihr Bestes, um dem Andrang Herr zu werden und die Massen in verschiedene Richtungen zu delegieren. Nicht lange, und die Kapazitäten der Halle wären erschöpft. Und dann...
Nazma warf einen Blick auf ihr Pad: und – nichts, wie zu erwarten stand. Sie überlegte. Hier weiter einfach abwartend herumzustehen (wartend auf was, das Ende?), erschien ihr keine Option, also ging sie los, einfach los, zuerst nur, um sich zu rühren, um das Gefühl zu haben, sich auf irgendeine Art zu bewegen, zunächst in irgendeine Richtung. Die Situation forderte von ihr zunächst einmal nur das: sich nicht der Mutlosigkeit hingeben, nicht weiter der Starre anheimfallen, so viel wußte sie, mehr auch nicht. Es war unendlich schwer, das einzusehen.
Sie kämpfte sich durch die Menge. Besonders weit oder schnell voran kam sie nicht. Es war ihr auch gleichgültig. Feiner Dunst hing in der Luft, stieg empor, sammelte sich unter der Kuppel zu einem Nebel. Nazma rümpfte unwillkürlich die Nase. Schweißgeruch lag in der Luft, das Aroma von Angstschweiß hing beklemmend, abscheulich über allem, kondensierte schon substanzartig überall. Nazma versuchte, all das auszublenden und schlich weiter ziellos durch die Gruppen der Menschen. Überall von Weinkrämpfen verzerrte Gesichter und solche, die in starrer Fassungslosigkeit lagen. Tausendfaches Wehklagen, Schluchzen, Schreien. Nazma spürte die Panik als ein Brodeln unter der Oberfläche. Kurz überkam sie die gefühlsmäßige Einschätzung, irgendwo dort draußen, egal wo, an einem anderen Ort, an dem es weniger eng, hektisch und fieberhaft hoffnungslos zuging, wäre sie besser dran, aber verwarf diesen Gedanken sofort wieder, als es außerhalb der Kuppel eine Reihe tiefer Explosionen gab und die meisten Menschen aufschrieen.
Nazma ging weiter. Sie konnte nicht anders, als die Menschen, denen sie begegnete anzustarren. Solche mit physischen Verletzungen sah sie kaum, und es wunderte sie, aber was sie ihre Verwunderung sofort vergessen ließ, waren die mannigfachen seelischen Verletzungen, die vielen unterschiedlichen Panikreaktionen, denen sie ansichtig wurde.
Jeder Mensch, jede Seele leidet anders. Immer sieht es anders aus. Zum Teufel mit den Versuchen, den menschlichen Geist zu deuten.
Frauen und Männer hockten kraftlos und niedergeschlagen auf dem Boden und starrten ins Nichts. Studenten irrten schluchzend durch die Menge; viele von ihnen riefen Namen, ohne Antwort zu erhalten. Kinder standen weinend da, zu geschockt und hilflos, um sich von der Stelle zu rühren. Nazma konnte nicht einmal weinen. Sie fühlte sich so allein.
Ich bin es; ich bin völlig auf mich gestellt.
Sie sah einen Mann mittleren Alters, einen Minenhelm, wie ihn Bergmänner einst trugen, auf dem Kopf. Er wirkte wie unter dem Einfluß von Psychopharmaka, stand mit maskenhaft starrem Gesicht, hängenden Schultern und den Oberkörper vor- und zurückwippend mitten im Gedränge und sagte immer die gleichen sinnlosen Wörter auf. „... Muß ... Kartoffelpfannkuchen backen ... Kräcker und Sprühkäse ... Und Pfannkuchen backen ... Brauche noch ... Kräcker mit ...“
Sprühkäse.
Nazma wußte schon. Ein Blick in dieses wahnsinnige Glitzern in den Augen des Mannes, und ihr war klar, daß er aufgrund der durchlittenen Schrecken den Verstand verloren haben mußte, oder kurz davor stand, ihn zu verlieren. Das bißchen Rest des logisch arbeitenden Teils seines Selbst klammerte sich
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