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Kairos (German Edition)

Kairos (German Edition)

Titel: Kairos (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gallo
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verzweifelt an die letzten alltäglichen Dinge seines Lebens vor der Invasion. Wahrscheinlich hatte er sich gerade wirklich mit Pfannkuchenbacken oder dem Erstellen einer Einkaufsliste für das Wochenende beschäftigt, als die Dornenschiffe vom Himmel gestürzt waren und die Shumgona angefangen hatten, die Menschen umzubringen. Kriegsneurose; fraglos, der arme Kerl befand sich in einem seelischen Ausnahmezustand mit gravierenden Verhaltensstörungen. Seltsam: die Betrachtung dieses armen Teufels half Nazma irgendwie dabei, nicht so zu werden wie er, sich ein kleines wenig mehr zusammenzureißen. Sie fühlte Mitleid mit ihm, doch sich mit ihm abgeben, wollte sie auf gar keinen Fall. Sie hatte ihre ganz eigenen Sorgen, Ängste und Befürchtungen. Sie verstand den Pfannkuchen-Mann als Mahnung, sich ihnen nicht ausnahmslos hinzugeben.
    Sie wußte nicht, ob es einen Sinn ergab, was sie da vor sich hin dachte, und ging rasch weiter. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie den Hallenrand. Sie suchte und fand die Hinweistafeln zu den WCs, leuchtende Streifen an den Wänden, denen sie folgte. Sie erreichte die Toiletten. Seltsamerweise waren diese nur spärlich frequentiert. Okay, immerhin etwas. Sie betrat das Damen-WC und schloß die Tür hinter sich. Irgendwie schienen ihr alle Damenklos dieser Welt vertraut. Und irgendwie war es immer der gleiche heimelige Ort zum Zurückziehen, schon seit Grundschulzeiten. Sie war wieder einmal hier. Keine mit Urinstein verkrustete Aluminiumrinne, sondern einzelne, abschließbare Kabinen. Eindeutig der Ort, den sie suchte. Sofort gewahrte sie den Geruch von Salmiak und Zigarettenqualm. Nazma sah mit feuchten Tüchern verdeckte Rauchmelder an der Decke und fand es einfach nur grotesk – wenn auch sinnvoll. Sie sah sich kurz um. Außer ihr waren noch vier weitere Frauen im Raum – zwei davon in etwa ihrem Alter, die beiden anderen bedeutend älter –, und alle verrichteten die gleichen Dinge: sich mit den Händen mit raschen, mechanischen Bewegungen kaltes Wasser ins Gesicht schaufeln, danach ebenso kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen lassen und, vor dem Spiegel stehend sich in die Augen sehend, tief, tief durchatmen. Gleichgesinnte im weitesten Sinn. Und das war auch gut so.
    Nazma erntete ein paar kurze scheue Blicke als sie eintrat. Sie selbst richtete kein Wort an irgend jemanden. Hier war sich jeder selbst der nächste, und das war völlig normal. Nazma trat an das nächste freie Waschbecken und ließ sich minutenlang kaltes Wasser über ihre Unterarme laufen. Die Kühle war wohltuend, mehr auch nicht. Sie nahm ein paar Schlucke von dem Leitungswasser und bemerkte den leichten Chlorgeschmack, dazu eine Spur Ammoniak. Ihr war übel und sie hoffte, das kalte Wasser würde helfen. Wahrscheinlich irrte sie. Sie zupfte ein paar Papiertücher aus einer Metallbox und rieb sich damit durch das Gesicht. Die letzten Spuren ihres von den Tränen verwischten Mascaras verschwanden. Sie betrachtete die dunkel verfärbten Zellstofftücher, knüllte sie zusammen und warf sie in den Müllschlucker hinter ihr. Dann starrte sie vor sich hin. Sie sah ein paar Haare im Waschbecken, das stumpfe Aluminium des Beckens selbst, die Chromeinfassung des Abflusses, das Siphon, den schwarzen Abfluß selbst, in den sie hineinstarrte, und der zu ihr zurückstarrte. Nietzsche fiel ihr ein.
Blickt man lange genug in einen Abgrund, blickt der Abgrundauch in einen selbst hinein.
Oder so ähnlich. Der Verrückte von vorhin fiel ihr wieder ein, der Pfannkuchen-Mann. Alles nur, um ihren Verstand davon abzulenken, was heute passiert war und weiterhin passierte. Nazma erinnerte sich an eine Studie, an der sie einmal für eine Uni-Arbeit in Soziologie teilgenommen hatte. Die Studie hatte sich der Reaktion einer Menge auf immensen Streß gewidmet. Die Ergebnisse paßten zu dem, was die Realität ihr jetzt bot. Zuerst kam der Zorn, eine recht positive Reaktion, weil sie das Gröbste (noch) von einem fernhielt, auch wenn sie Gewalt einschloß. Es folgte Stoizismus, der Wunsch, in Ermangelung eines besseren abzuwarten; dann Teilnahmslosigkeit, Schrecklähmung durch Desillusionierung. Dieser Phase folgte ein Stadium von Wahnsinn. Sie schnappten über, begannen zu toben, und dies war dann das Ende und zugleich der Anfang von allem weiteren.
Dies kommt also noch
, dachte sie.
    Zwei Frauen verließen den Sanitärraum. Es gab einen kurzen Augenkontakt zwischen Nazma und einer von ihnen, ein flüchtiges Abtasten, nicht

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