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Kairos (German Edition)

Kairos (German Edition)

Titel: Kairos (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gallo
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auch äußerlich und begann hemmungslos zu weinen. Sie zitterte. Ihre Knie drohten, das Gewicht ihres Körpers nicht länger tragen zu können. Nazma glaubte, jeden Moment zusammenzubrechen zu müssen. Sie fühlte sich schwach, so unendlich schwach – müde und zugleich wie aufgrund eines heißen Wahnsinns tief in ihr auch hoffungslos überdreht. Sie war allein; sie war krank. Die ständige Angst vor dem Sterben, davor, in diesen Kriegswirren irgendwo qualvoll zugrunde zu gehen, geschlagen und allein, riß an ihrem Inneren wie ein Raubtier am Fleisch seiner Beute, und egal was sie tat, sie wurde das Biest nicht los. Es begleitete sie auf Schritt und Tritt, wer wußte, wie lange schon.
    Nazma zitterte. Sie schluchzte unkontrolliert. Aus dem Weinen wurde ein Krampfen. Sie wollte schreien. Sie schaffte es nicht länger, gleichmäßig zu Atmen. Ihre Lungen zogen sich zusammen und entspannten sich in einer chaotischen Ungleichmäßigkeit. Beim Weinen hustete sie. Ihre Nase lief. In ihren Ohren, ihrem ganzen Kopf dröhnte es. Sie dachte immer wieder ohnmächtig über ihre Situation nach. Aber die war zu schrecklich, also flüchtete zu etwas anderem, das alsbald ebenso schrecklich war, wie die Bilder zuvor. Sie flüchtete auch davor. Die neuen Bilder waren nicht besser; es waren Kopien der ersten Karikaturen. Nazma ging wieder weiter, floh, um schließlich zu dem ersten Schrecken – dem geballten Schreck ihrer gegenwärtigen Lage – zurückzufinden.
    Ihr schwindelte. Sie preßte sich eine Hand an den Körper als wollte sie verhindern, daß ihr das Herz aus dem Leib spränge und hielt sich mit der anderen an dem Waschbeckentisch vor ihr fest, starrte auf das gleichmäßig aus dem Hahn fließende Wasser. Das Geräusch klang unendlich laut in ihren Ohren, wie ein Wasserfall, wie die verdammten Niagarafälle. Sie wollte sich die Ohren zuhalten, aber befürchtete, daß wenn sie die Hand vom Tisch nähme, sie nach hinten kippen und auf den Fliesenboden schlagen würde.Alles um sie herum verschwamm zu einem rotierenden Potpourri aus ineinandergreifenden Nichtsen. Alles war in Schieflage geraten, die Welt außen, und die Welt in ihrem Inneren, einfach alles. Was sollte jetzt nur werden, was? Niemand gab ihr eine Antwort. Die Stimme von vorhin, das Über-Ich, wie Nazma es genannt hatte, war längst verstummt.
    Lange Zeit (Sekunden, Minuten?) hatte Nazma in die unzähligen kleinen Strudel und Wirbel aus Leitungswasser in dem Waschbecken gestarrt, in den Abfluß, in dem letztlich alles Wasser verschwand. Jetzt sah sie wieder auf, in ihr Gesicht im Spiegel.
    Sie sah in ein Gesicht. Es war nicht ihr Gesicht. Aber es war in all der gefühlten Finsternis hell und strahlend wie ein Meteor, der über den Nachthimmel zischte. Es hing etwas entfernt in der Luft und dicht neben ihrem eigenen. Nazma sah einen stumpf geschnittenen blonden Pony, eine Nase voller Sommersprossen und ein Shirt mit keltischen Mustern, über dem eine I.N.R.I.-Buchstabenkette hing. Nazma fixierte dieses Detail.
Jesus Nazarenus Rex Judaeorum ...
Es dauerte einige Augenblicke, vielleicht dauerte es auch eine ganze Menge davon, aber dann erkannte Nazma das Gesicht, erkannte die Person, zu dem dieses Detail gehörte.
    Das Gefühl eines Déjà-vu-Erlebnisses. Sie erinnerte sich...
    Vor ihr stand eine Frau in ihrem Alter, Körper, Gesicht und Modestil – weißes Polohemd, schwarzer Rock, eine Spur von Lippenstift – unscheinbar schlicht. Sarah-Jemima Watkins. Spröde Eigenbrötlerin mit überzogener Weltgewandtheit (Besserwisserei), konservativem wie robustem Gottesbild und einem impertinenten Bloßlegen ihres (zugegeben) maßgeblichen Intellektes. Sie belegte vergleichende Religionswissenschaften und Theologie, war der Liebling des Lehrkörpers, Chefredakteurin der Campusperiodika Pulsar und Präsidentin des Debattierclubs. Sie war ein Nerd, hochtalentiert und privilegiert, aber vom Rest der Welt weithin abgeschottet. Sie galt als Unperson, aber als insgeheim geachtet...
    Es war Sarah-Jem, der Nerd, diese Bibelschwester. Jesuskind.
    Ihre Hoffnung. Ihre Rettung.
    Und ihre Rettung gestattete sich, während Nazma einen Schritt auf sie zumachte, ein wehmütiges Lächeln. „Wird’s denn gehen? Ich meine, dein Zustand...“
    Sie brach ab. Nazma sagte nichts. Sie betrachtete Sarah-Jem im Spiegel. Sie hatte sie nicht kommen sehen. Oder hören. Sie war auf einmal einfach ... da, hinter ihr aufgetaucht, wie aus einerverborgenen Tür in das Licht dieses Raumes getreten. Tausend

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