Kairos (German Edition)
Personen. Aber dies hier war keine Bücherthematik, Fiktion, wenn man so wollte; es waren echte Erlebnisse. Diese Tode, Traumen, Male und Wunden waren echt. Sie kamen und blieben. Und dennoch, oder genau deshalb, fiel es ihr unendlich schwer, all dies mit sich selbst, ihrem eigenen Leben in Einklang zu bringen. Diese ihre Realität konnte doch unmöglich so gnadenlos sein. Sie schüttelte immer wieder um Verstehen und Akzeptanz bemüht lind den Kopf. Die Welt war ein Tollhaus.
Sarah-Jem versuchte, ihre Betrachtungen auf einen Lösungsansatz oder ein erstes lohnendes Ziel auf dem Weg dorthin zu fokussieren, hinaus aus diesem Schlamassel. Aber zu ihrem größten Leid sprang immer wieder irgend etwas anderes in den Vordergrund. Etwas Bestimmtes. Das Wissen um eine Tatsache. Es forderte zu einer unbequemen Selbstbetrachtung heraus. Mit jeder Sekunde, die Sarah-Jem es vor Nazma zurückhielt, täte sie ihr mehr Unrecht. Sie wußte, sie konnte es nicht länger aufhalten. Umihrer selbst Willen und erst recht um Nazmas.
„Nazma, du ... Du mußt mir jetzt zuhören, ich mußt dir was sagen. Etwas Wichtiges.“
Sarah bemerkte sofort, wie Nazma sich bei ihren Worten anspannte und die Brauen zusammenzog. Sarah war bewußt, daß Aussprüche wie diese oft als Auftakt zu schlechten Nachrichten gedeutet wurden. So wie jetzt.
Nazma fragte: „Warum? Was ist los?“
Sarah sagte: „Nazma.“ Sie holte Luft. „Judith.” Eine Sekunde, dann: „Ich muß dir sagen, daß sie tot ist.“
Judith. Tot.
Nazma schwieg, während sie zusammen auf den Fliesen saßen und jeder den eigenen Gedanken nachhing, Gedanken, die sich um eine aussichtslose Zukunft drehten, um einen Endpunkt aus Kummer und Qual. Und ab jetzt auch um einen konkreten Verlust.
Tot
, dachte sie.
Tot...
Sie dachte dieses Wort immer wieder, als probierte sie in Gedanken dessen Geschmack.
Als Nazma wieder sprach, klang sie noch gedämpfter. „Und wie?“
Sarah schüttelte den Kopf. „Glaub mir einfach, daß es die Wahrheit ist, in Ordnung? Es ist so.“
„Was sagst du da?“
„Ich irre mich nicht. Ich habe es selbst gesehen.“
Eine neue, tiefere Art der alten Taubheit machte sich in Nazma breit. Noch schien sie ganz nüchtern. „Und wie soll das passiert sein?“
Sarah-Jem antwortete nicht sofort. Sie sah betreten im Raum umher, ehe sich ihr scheinbar fester Blick auf Nazma richtete. „Bei dieser Massenpanik. Vorhin. Vor der Halle. Judith ... Sie ist wie alle anderen gerannt. Dann ist sie gestürzt, sie schaffte es nicht mehr, rechtzeitig aufzustehen, und man hat sie ... hat sie einfach...“
„Schon gut, ich weiß schon, was du sagen willst.“ Nazma schwieg, sah auf den Boden. Sie klemmte sich eine Strähne hinter das Ohr, schien sich innerlich zu schütteln und begegnete dann Sarah-Jems mitfühlendem Blick. Nazma fühlte, wie ihr die Schultern sanken. Dann begann sie zu heulen. Aber irgendwie erschien ihr Judith – was ihr zugestoßen war – bei all dem gleichgültig.
Auweia
, dachte Sarah-Jem und sagte: „Ich habe sie daliegen sehen – augenscheinlich tot. Sie hat nicht mehr geatmet, als ich sie erreichte. Ich weiß es.“ Sie stützte sich auf die Knie. „Hör zu, Nazma, all das tut mir so leid. Ich hätte ihr irgendwie geholfen,wenn ich auch nur die kleinste Möglichkeit dazu gehabt hätte. Aber die hatte ich nicht.“ Sie schüttelte mehrmals den Kopf. „Keine Chance.“
Nazma wußte, daß es die Wahrheit war, daß jedes von Sarah-Jems Worten stimmte. Wäre sie sich nicht hundertprozentig sicher, Judith sterbend oder tot gesehen zu haben, hätte sie niemals ein Wort darüber verlauten lassen. Sie hätte einfach den Mund gehalten. Nazma schloß die Augen. Sie schluckte Magensäure und holte tief Luft. Sie biß sich in deprimierter Anspannung auf die Lippen und kniff die Lider noch fester zusammen, während sie mit ihren Gedanken und den Gefühlen, die sie schufen, kämpfte. Als sie sprach, hob sie den Kopf, aber hielt noch immer die Augen geschlossen. „Okay. Okay, sie ist tot. Judith ist tot.“ Sie öffnete die Augen. „Ich akzeptiere es...“ Ihr Kinn zitterte. Sie kniff mehrmals die Lider auf und zu, um den Tränenfluß schon im Keim zu stoppen.
„Hey.“ Sarah-Jem streckte sanft eine Hand nach ihr aus. „Nazma, du mußt nicht denken, daß du...“ Sie brach ab. Was hatte sie sagen wollen? Daß Nazma sich nicht vor ihr zu schämen brauchte? Wahrscheinlich das. Aber Nazma würde sich ihrer sowieso schämen, egal, was sie, Sarah-Jem,
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