Kairos (German Edition)
wurde und alles um sie herum im Begriff stand, mit einem Höllengetöse den Bach herunterzugehen. Die alten Befangenheiten galten nicht länger. Am heutigen Tag wurden die Karten völlig neu gemischt.
Also hör auf so zu tun, als hätten die Dinge sich nicht grundlegend geändert. Hör auf, nach alten Maßstäben zu denken. Geh weiter.
Es klang für sie alles soseltsam, so richtig, aber auch unendlich albern. Nazma traute ihren eigenen Gedanken nicht. Vielleicht ganz menschlich, gerade jetzt. Vielleicht der Anfang einer sich anbahnenden, umfassenden Schizophrenie.
Ach Scheiße.
Sie betrachtete die vor ihr sitzende Sarah-Jem. Ein Wunsch formte sich in ihr. Sie wollte nicht länger alleine hier hindurchgehen. Sie wollte niemals mehr alleine sein. Besonders jetzt nicht, natürlich. Sie fühlte sich wertlos, ohne Zukunftsglauben. Sarah-Jem, so seltsam oder schamlos es sein mochte, war ihr praktisch sofort eine Art Anker, nach dem sie bereitwillig griff, ein lichtes Zentrum in einer aus chaotischem Trubel geformten Finsternis, die immer weiter auf sie zuschoß. Sarah-Jem Watkins. Sie hatte mit dieser Frau niemals etwas zu schaffen gehabt – im Gegenteil: im besten Fall hatte sie sie immer nur belächelt. Jetzt wollte sie nichts sehnlicher, als daß Sarah-Jem ihre engste Verbündete wäre. Weil niemand sonst mehr da war.
Sarah-Jem zog eine zerdrückte Schachtel
NieuwGauloise
aus der Hosentasche. Sie nestelte eine Zigarette aus der Packung, steckte sie sich in den Mund und entzündete sie mit einem schmalen Stahlfeuerzeug. Dann hielt sie Nazma mit fragend hochgezogenen Augenbrauen die Packung hin. Nazma hätte – zunächst in Ungläubigkeit erstarrt – jubeln und heulen können. Eine Zigarette wäre fantastisch. Okay, sie hatte vor fünf Jahren das Rauchen aufgegeben, aber jetzt mußte sie sich einfach einen dieser weißen Stengel zwischen die Lippen stecken. Sämtliche guten Vorsätze waren mit dem Eintreffen der Skulls sowieso in Rauch aufgegangen, also, was sollte es noch. Nazma griff nach der Schachtel und nahm sich umständlich eine Zigarette heraus. Sie entzündete sie, inhalierte ehrgeizig tief
(Coreys Dreiviertelprofil, aufblitzend, an diesem Joint ziehend)
und hustete. „Habe ganz vergessen, wie scheußlich die Dinger schmecken.“
„Mehr oder weniger. Aber darauf geschissen.“
Ein angedeutetes Schmunzeln entstand zwischen ihnen, zu dürftig, um irgend etwas beständig Positives auszusenden, aber erzwungen zuversichtlich genug, um eine Winzigkeit von innen heraus zu wärmen. Nazma rauchte, blies den Rauch auf die glühende Spitze, starrte auf die Glutfunken, die davon stoben, und dachte an Meteore im Sonnenlicht. Die Kippe schmeckte wirklich scheußlich, irgendwie nach Schießpulver, aber Nikotin, Teer und die eine Million anderen Stoffe zeigten ihre beruhigende Wirkung und ganz langsam ging es ihr einen endlos geringen Deut besser.Sie war noch benommen, fühlte aber kein überwältigendes Schaudern mehr. Also gab es auch in einem guten Sinn Erstaunliches – wie diesen Augenblick, diese überraschende Zusammenkunft, die er barg. Erfüllt von der alten Hoffnungslosigkeit und einer neuen Scham setzte Nazma sich Sarah-Jem gegenüber auf den Boden. Sie rauchten schweigend ihre Zigaretten zu Ende. Über ihnen kroch ein schmales unscharfes Rechteck Tageslicht langsam über die hohen Wände des Toilettenvorraumes. Von irgendwoher erklang das Geräusch von Metall, das über Metall strich. Und von fern ertönten noch andere, schlimmere Geräusche.
Sie klopften die Asche auf den Boden und schnippten die Stummel in ein Waschbecken. Aber sie blieben sitzen. Noch immer konnte niemand etwas sagen. Die Leere in ihnen ließ sie nur dasitzen und warten, auf irgend etwas warten. Das verband sie. Nazmas Gedanken fühlten sich an, wie ein Sprintstar empfinden mußte, der durch Mengen von Honig watete. Sie wollte, konnte aber nicht, es war bis zum Ausrasten quälend. Sie wollte bezüglich dessen, was nun am Besten zu tun wäre, zu einem Ergebnis kommen, einem handfesten Entschluß, aber schaffte es nicht. Sie kam nicht einmal in die Nähe einer Entscheidung. Etwas hielt sie davon ab, hielt sie fest. Ihr Schicksal – das war es, was ihr andauernd im Kopf herumging. Sie dachte über ihr Schicksal nach, über Judiths Schicksal, über Coreys. Und alles erschien komplett irrsinnig. Nazma war, als sänne sie über die Lebenswege fremder Menschen nach, über die verworrenen, immerzu tragischen Laufbahnen erfundener literarischer
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