Kairos (German Edition)
sagte. Menschen wie Nazma schämten sich die meiste Zeit. Sarah-Jem sprach mit leiser Stimme: „Es tut mir leid.“
Nazma nickte, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihr Gesicht verkrampfte sich, als sie zu weinen begann. Sarah-Jem redete weiter, aber Nazma hörte sie nicht mehr. Die Welt war in Schmerz getaucht, aber in den Falschesten, in Selbstmitleid. Judith Fisher war egal.
„Ist schon okay“, flüsterte Sarah ihr zu. „Laß es einfach raus.“
Nazma fühlte einen Arm auf ihrer Schulter. Sie schrie, aber ihre Wut galt nicht Sarah, oder irgend jemandem auf der Welt, sondern war ziellos. „Schluß mit diesem beschissenen Unsinn! Ich will das alles einfach nicht wahrhaben. Ich will’s nicht! Warum geht das alles nicht einfach vorbei? Bitte, Gott, laß das alles doch endlich vorbei sein...“ Ihre Schreie gingen in ein Schluchzen über und dann darin unter.
Sarah-Jems Nackenmuskulatur war so verkrampft, daß sie sich nicht rühren konnte. Ihre Sehnen waren gespannt wie eine Bogenschnur. Sie sah Nazma beim Leiden zu. Es war ein elender Anblick, aber ihr war eine gewisse Distanz zueigen. Und hier nach etwas Hoffnungsvollem zu suchen, wäre wie mit einem Scheinwerfer in dunkle Ecken zu leuchten. „Kein Sorge, Nazma, wir überstehen das. Du wirst es.“ Das war ein sündhaft teures Versprechen, aber eines, das sie zu halten gedachte – schon um ihrer selbst willen. Sie streckte die Hand nach Nazma aus, aber die zuckte bei der Berührung zurück wie beim Stich einer Nadel. „Schon gut“, sagte Sarah-Jem und griff nach einer weiteren Zigarette, als mit einem Schlag die Tür aufgestoßen und eine Gruppe Studenten von Militärpolizisten mit Kevlarwesten samt Klettverschlußtaschen, Cargohosen, schwarzen Mützen und Handschuhen bekleidet im Zwangsjackengriff in den Raum geführt wurden.
„Ihr da, raus hier!“, brüllte einer der MPs die beiden Frauen an.
„Hey, sehen Sie hier vielleicht ein Urinal oder was ist los? Das hier ist immer noch das Damen-WC, verdammt noch mal!“, schrie Sarah-Jem zur Überraschung aller zurück. Sie war aufgesprungen, aber vermied es, sich einem der Polizisten in den Weg zu stellen.
Einer der Beamten sagte: „Ich werde es für dich klarstellen. Sperr deine Ohren weit auf, denn wir sind jetzt das Gesetz.“
„Sie können doch nicht...“
„Was wir können und nicht können, kümmert nicht mehr.“
Das schien eine Art Stichwort gewesen zu sein. Ein anderer Uniformierter packte einen der Studenten an den Haaren, riß seinen Kopf zurück und schlug seine Stirn gegen die gekachelte Wand. Bei dem Aufprall gab es ein brechendes Geräusch, daß Sarah-Jem zurückfahren und Nazma zusammenzucken ließ. Dann spritzte Blut, der Student schrie vor Schmerz und schützte sein zertrümmertes Nasenbein mit den Händen.
Einer seiner Begleiter stammelte: „Aufhören, bitte, wir...“
Ein anderer Polizist griff ihn hinterrücks. „Schnauze!“
„Aber das – das ist...“ Sarah-Jem brach fassungslos ab.
Einer der Beamten wandte sich ihr grienend zu. „Es gibt nichts, was wir nicht tun könnten. Alles ist dabei, im großen Stil den Bach runterzugehen, aber wir werden ganz sicher nicht tatenlos danebenstehen, wenn verkommene Subjekte, wie diese zwei Gammler hier, sich nicht anständig benehmen.“
„Nicht anständig?“ Sarah-Jem trat einen Schritt vor. „Was muß den passieren, was so etwas rechtfertigt? Verdammt, Sie sollten die Menschen beschützen, anstatt sie zusammenzuschlagen.“
„Oh, wir schützen sie ja.“ Ein Seitenblick zu den jungen Männern. „Man sagte uns, sie seien bewaffnet und gefährlich.“ Er sah wieder Sarah-Jem an. „Und dann ist da diese neue Order, direkt vom Ministerium: Die Sicherheitskräfte dürfen, falls nötig, Gewaltanwenden. Falls es der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung dient, ist es erlaubt.“
„Sie sind doch komplett wahnsinnig, Mann!“
Der MP lachte häßlich. „Erzähl das den Skulls, Schwester.“ Er tat einen Schritt vor, seine gummibesohlten Springerstiefel quietschten auf dem Fliesenboden, und er zischte: „Und jetzt schiebt ab, bevor ich es mir anders überlege und euch auch noch, wie du sagst,
zusammenschlage
.“
Nazma trat hinter Sarah-Jem. „Laß gut sein. Wir verschwinden.“ Doch Sarah-Jem rührte sich nicht. Nazma fragte mit zitternder Stimme: „In Ordnung? Sarah-Jem?“ Als sie nicht antwortete, zischte Nazma: „Keinen Ärger jetzt.“
„Hör auf deine Kanakenfreundin. Wäre besser für euch.“
Die
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