Kairos (German Edition)
er nichts aufnahm oder behielt und zugleich alles bereits verinnerlicht hatte. Alles ging an ihm vorbei, wehte in das Reich des Nichtfaktischen und wurde dadurch gehaltvoller in ihm.
„Genug...“, murmelte Corey.
Der Bärtige blickte ihm ins Gesicht. Dann sagte er zu der Frau: „Eiko, er hört es. Er kann es wirklich hören.“
Die Frau schaute kurz über die Schulter. Vor Anstrengung konnte sie kaum Reden. „Es wird ihn akzeptieren, ich bin sicher. Alain, ich glaube, daß alles hier mußte sich genau so zutragen.“
Schwer vorzustellen, aber ... „Ja“, sagte er. Er empfand ähnlich wie Eiko, hatte aber größere Schwierigkeit mit dessen Akzeptanz. Seltsam, zum ersten Mal war er sicher zu wissen, wie die Dinge wirklich lagen. Er meinte die kausalen, ungemein machtvollen Zusammenhänge. Er konnte sagen, was wann warum in welcher Form geschehen war, um dann wie auch immer etwas zu verändern. Es war befremdlich, aber er lernte daraus. Wann immer es die
Gaia
wollte, überschüttete sie die Erwählten mit Schüben aus Wissen. So wie jetzt. Das Clarke-Zitat fiel ihm ein, mit Bals als Adressat. Magie.
Materie und Energie,
dachte er.
Also alles, was existiert.
Er begriff, daß es die Emotionen jener Entität, die das Schiff war oder barg, waren, und daß es nichts Schlechtes war, wenn eine fremde Wesenheit sein, Alains, Bewußtsein umklammert hielt, um es mit allem, was gültig war, zu speisen bis es überzulaufen drohte. Nur der Zeitpunkt schien ihm falsch. Draußen marschierten die Shumgona auf, rasend wütend über das von Doria initiierte Feuerwerk; er und Eiko und Enriqu trugen einen schwerverletzten jungen Mann, der ihnen von den Winden des Schicksals zugetrieben worden war; und in Kürze würden sie an Bord des Sternenschiffes sein, starten und die Erde mit all ihren Wunden und fehlgeleiteten Dogmen verlassen. Alain wußte: Er würde sterben, und woanders neu geboren.
Sie waren da; vor ihnen der Ovoid. Die Schlieren wie ölige Pfützen auf dessen Oberfläche schillerten irisierend und verfingen sich in immer neuen Wirbelformen. Alles leuchtete wie von einem Licht in großer Tiefe – schwach, aber der Finsternis trotzend. Die Gefährten sahen sich an.
„Okay. Versuchen wir es.“ Alain war auf alles gefaßt. „Lassen wir ihn hinunter.“
Sie taten es, behutsam. Corey, desorientiert und der Ohnmacht nahe, stöhnte leise. Enriqu befühlte aus unerfindlichen Gründen die Stirn des Jungen und zog dabei seine eigene kraus. Eiko sprach beruhigend auf den Verwundeten ein; dieser regte sich leicht inmitten seiner Umnachtung und lag dann still.
„Sie kommunizieren miteinander“, stellte Alain fest. Er nickte kurz gen
Gaia
. „Das Schiff und der Junge ... Ich weiß nicht, waszwischen ihnen vorgeht, aber es scheint mir, als könnte es funktionieren.“ In Wahrheit wußte er, daß es so kommen würde – daß der Junge mitkam.
Eiko warf ihm einen ungehaltenen Blick zu. „Stehen wir nicht länger herum. Tun wir es.“
Sie schleppten Corey bis zu der Stelle, wo sich der verborgene Einstieg befand. Jetzt sah man dort nichts, nur weitere schillernde Schlieren im Silberblinken der Hülle. Sie hoben den reglosen Körper erneut an. Was dann geschah, war wundervoll und mitreißend zugleich.
Enriqu fühlte die Veränderung zuerst, und noch bevor sich irgend etwas regte. Er spürte den Körper des wegdämmernden Jungen in seinen Armen leichter werden. Etwas zog ihn nach oben. Dann entstand auf der Außenhülle des Sternenschiffes wieder der blaue Lichtkreis mit seiner endlosen Tiefe. Die wellenartigen Bewegungen rollten erneut über das Gebilde, wie damals, im Inneren der Dschungelpyramide. Die Kreisöffnung entstand, ebenso der ringförmige, leuchtende Wulst darum.
„Das Portal“, sagte Eiko.
Alain nickte.
„Loslassen“, flüsterte sie.
Der Franzose starrte empor und ließ Corey los. Enriqu hatte seine Hände schon zurückgezogen.
Corey flog. Zuerst verharrte er nur auf Höhe von Alains Kopf auf der Stelle schwebend. Dann zog es ihn sacht hinan. Das Licht der Öffnung, das Leuchten des Sternenschiffes selbst, umhüllte ihn, behauchte ihn mit einem unirdischen Glanz. Er war nahezu weggetreten, aber, tief in ihm ... dieser Lärm in seinem Kopf, dieses Vibrieren seiner Eingeweide. Er spürte das Blut in seinen Ohren pulsen. Er war benommen, aber sein Unterbewußtsein, genährt von den Eindrücken seiner überforderten Sinne und geleitet von unbewußten Prozessen, wußte immerzu, an welch außergewöhnlichem
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