Kairos (German Edition)
Ledersessel, ein Rolltisch, auf dem sich ein Holo-TV-Gerät befand, und eine Leseleuchte. Die Fächer der Kochnische bargen nur ein paar Gläser, Teller, Töpfe und Konserven. Doria lud niemals Gäste ein, und das sah man der Wohnung an. Das einzige schmückende Element war eine Fotoreproduktion an der Wand, die ein Segelgleiter aus fast viertausend Metern Höhe aufgenommen hatte – Maisfelder, Alleen, ein Flußbett, eine befestigte Straße und ein Wirtschaftsweg, die sich schnitten. Doria fand dieses Foto großartig. In dem langen freien Flug, bevor der Segler wieder landete, lag wahre Freiheit. Und Freiheit war das, wonach sie sich sehnte. Freiheit bedeutete Erlösung von ihrer Schuld. Sie wollte keinen Schmuck, keine Kleider, keine Kunstwerke. Sie wollte Freiheit. Erlösung von der Schuld.
„Doria. – Hey, Doria!“, rief eine ihr entfernt vertraute Stimme. „Kommen Sie schon, wachen Sie auf.“
„Wie gern würd ich ... falln in den endlosen Raum ... schweben überm Abgrund...“, sagte sie jetzt mit trägem Zungenschlag und schüttelte gleich darauf den Kopf.
„
Verflucht! Aufwachen!
“
„Nicht!“ Mary-Doria Patrick fuhr hoch. Ihr Hirn war voll schlimmer Bilder; von einer Vision von einem Jungen in einem verfallenden Turm; von einer Alptraumkreatur, ein am ganzen Leib verbranntes Kind,
ihr
Kind...
Doria war besessen von den Alpträumen, die sie ständig überfielen, Träumen von Feuer und Blut und einer Frau, die sie anschrie, sie hätte ihren Sohn getötet.
„Wo ... bin ich...“ Sie blinzelte ein paar Mal, um sich zu orientieren, und erkannte dann, daß sie in der Steuerblase hing.
Eine Stimme sprach beruhigend auf sie ein. Dann schob sich Eikos Kopf in die Blase. „Schlecht geträumt? Also, wenn Sie schlafen, Doria, dann schlafen Sie.“
Doria stöhnte. „Hat man denn niemals Ruhe? Ich...“, doch ließ sie ein stechender Schmerz zwischen den Augen abrupt verstummen. „Au! Hölle!“
Eiko stand da und betrachtete sie auf die gefaßte Art, die sich einstellt, wenn man einem anderen Menschen beim Aufwachen zusieht. Mary-Doria Patrick, obwohl Alain Eiko gegenüber mit seinem Wissen zuletzt viel Licht in die dunklen Gedankengänge dieser Frau gebracht hatte, war Eiko noch immer ein bedrückendes, Angst machendes Rätsel.
Natürlich hatte es unter ihnen eine Aussprache gegeben. Nachdem Doria im Inneren der Pyramide diese unsägliche Show abgezogen hatte, war es unabdingbar gewesen. Sie alle, willens oder nicht, waren jetzt eine verschworene Gemeinschaft, eine von höheren Kräften handverlesene Schar, eine – mit Alains Worten – heilige
société
. Für Eiko war es ein
Kreis
und ihr Schicksal mit Dorias verknüpft. Das Lösen dieser Bande würde für sie alle, womöglich die gesamte Menschheit, katastrophale Folgen haben. Das wußte Eiko, wußte Alain, und Doria wußte es auch.
Also hatten Eiko und Alain Doria zur Rede gestellt. Das war in Lyon gewesen, kurz nachdem sie dort mit der
Gaia
in einer weiten Landeellipse niedergegangen waren, und bevor Rufus Bals aufgetaucht war, um das Sternenschiff zu inspizieren. Bals gegenüber hatten alle die geweihten Auserwählten von Galdeas Gnaden gemimt, ein durch die neue Wirklichkeit einer schnurstracks auf sie zuhaltenden Gefahr zusammengeschweißtes Team, das sich seiner Verantwortung schmerzlich, aber konsequent bewußt war.
Ein Gespräch mit Doria war notwendig gewesen. Schon der Gedanke, mit einer psychisch so labilen und abgründigen Person den Flug nach Som anzutreten, um dort welchen Dingen auch immer zu harren, ließ Eiko schaudern und am Gelingen ihrer Mission erheblich zweifeln. Dorias Gefühlswelt war ein Labyrinth, ein versunkenes Reich, eine Enzyklopädie in fremder Sprache und Doria selbst eine der großen Unbekannten in jener komplizierten Gleichung, die ihre Situation darstellte. Aber eines wußte Eiko: Dorias Zorn war nur eine Maske, hinter der die Pilotin Hilflosigkeit und Trauer verbarg.
Die Unterredung war zweigeteilt verlaufen. Eiko hatte fest damit gerechnet, Doria durch die Konfrontation mit ihren Vergehen und dem daraus resultierenden Schmerz in einen neuen Koller zu treiben. Alain auch. Es war anders gekommen. Zwar war Doria verbittert und herrisch aufgetreten, aber letztlich einsichtig gewesen. Eindrucksvoll zu beobachten, wie gewandt der menschliche Geist es verstand, die Klippen aus Angst und Schuld zu umschiffen; dann aber, jäh und heftig wie bei einem Dammbruch, war es aus Doria herausgesprudelt. Sie war laut,
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