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Kaisertag (German Edition)

Kaisertag (German Edition)

Titel: Kaisertag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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mich sehen, wenn ich das Rohr auf der Wiese wieder verlasse, darum geht das nur im Dunkeln. Falls die ganze Angelegenheit sich bis zum Sonnenaufgang hinzieht, muss ich im Wasserrohr warten, bis es wieder Nacht wird. Darum darfst du dir auch keine Gedanken machen, wenn ich am folgenden Morgen noch nicht zurück bin, ja?«
    »Ich gebe dir mein Wort, dass ich nicht in verzweifelte Weinkrämpfe ausbrechen werde. Zufrieden?«
    Sie sah ihn direkt an. Prieß wusste nicht, ob er es sich nur einbildete, aber er glaubte fast, dass sich unter die Besorgnis und Skepsis in ihrem Blick eine Spur Anerkennung, vielleicht sogar Bewunderung gemischt hatte.
        
     

Mittwoch, 1. Juni
     
    Meter für Meter bahnte Prieß sich seinen Weg durch die Dunkelheit. Er kam nur langsam voran, denn er musste darauf achten, im hohen Gras keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Das leiseste Knacken unter seinen Schuhsohlen erschien ihm wie dröhnender Lärm, der ihn verraten konnte.
    Alle paar Augenblicke blieb er stehen und schaute unruhig hinter sich. Während der Fahrt zum Mönkhofer Weg hatte er kurz den Eindruck gehabt, ein Auto würde ihnen folgen; doch wie es aussah, war das nichts weiter gewesen als Einbildung. Er lauschte nervös in die Nacht, aber alles was er hörte, war sein eigener Atem.
    Er ging weiter. Es fiel schwer, in der Finsternis Entfernungen abzuschätzen. Die Wiese schien kein Ende zu nehmen. Prieß wusste, dass er jeden Moment auf den Wasserlauf stoßen musste, daher setzte er noch behutsamer einen Fuß vor den anderen. Er konnte nicht riskieren, noch einmal in den Graben zu stolpern und sich dabei vielleicht zu verletzen.
    Er spürte, wie ihm vor Anspannung am ganzen Körper kalter Schweiß aus den Poren trat und sich unter der Gummihaut des Taucheranzugs sammelte. Als er endlich den Graben erreichte, war er erleichtert. Er stieg vorsichtig die Böschung hinab und tastete sich mit kleinen Schritten im Bachbett vorwärts, bis er zu der Öffnung des Abflussrohres kam.
    Er versteckte den Plastikbeutel mit dem Trainingsanzug zwischen einigen Sträuchern, hängte sich den flachen kleinen Rucksack vor die Brust, ging auf alle viere und holte ein letztes Mal tief Luft.
    Ich bin verrückt , dachte er. Dann kroch er in das Rohr.
      
    Schon nach wenigen Sekunden hätte Prieß am liebsten den Rückzug angetreten. Es stank bestialisch in der engen Röhre, ein fauliger Geruch von dumpfer Feuchtigkeit und vermodernden Pflanzenresten verpestete die Luft. Er traute sich kaum einzuatmen, aus Angst, sich dann erbrechen zu müssen. Mit den Händen und Knien durchpflügte er eine zähe, schleimige Masse aus schlammigem Wasser, Algen und Dreck. Es war viel schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte.
    Sein Rücken begann zu schmerzen.
    Ihm war vorher nicht klar gewesen, was es hieß, mehrere Hundert Meter in dieser Haltung zurücklegen zu müssen. Auch seine Kniescheiben machten sich bald bemerkbar. Prieß biss die Zähne zusammen und hoffte, dass er durchhalten würde.
    Plötzlich ertasteten seine Hände einen Absatz auf dem Boden. Vor ihm schien sich das enge Rohr zu einer Kammer zu erweitern. Er kroch ein Stück weiter, bis er genug Platz hatte, um sich aufrecht hinsetzen zu können. Mit einem stummen Fluch auf den Lippen drückte er den Rücken durch. Dann wischte er sich den gröbsten Schmutz von den Händen, holte die Taschenlampe aus dem Rucksack und schaltete sie an.
    Jetzt konnte er sehen, dass er sich in einem kleinen Raum befand. Wenn der Lichtkegel der Lampe über die Wände strich, warfen die bröckelnden Ziegel und tief ausgewaschenen Fugen Schatten, die sich ständig veränderten und die geisterhafte Illusion hervorriefen, dass die Mauern sich bewegten. Der Bach verlief in einer Rinne im Boden und verschwand nach nur zwei Metern in der Fortsetzung des Rohres auf der gegenüberliegenden Seite der Kammer. In der linken Wand befand sich eine weitere Öffnung von gleichem Durchmesser.
    Prieß leuchtete nach oben und stellte fest, dass über seinem Kopf ein Schacht mit rostigen Eisensprossen zu einem Kanaldeckel hinaufführte. Er musste nicht auf die Karte schauen, um zu wissen, wo er sich jetzt befand. Nachdem er die Pläne zwei Tage lang fast ununterbrochen studiert hatte, kannte er sie so gut wie auswendig. Diese Kammer war knapp siebzig Meter vom Teich des Gutshauses entfernt; das Ziel lag in greifbarer Nähe.
    Bevor er wieder in die Röhre hineinkroch, wollte er sich noch einmal strecken, denn sein Rückgrat

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