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Kaisertag (German Edition)

Kaisertag (German Edition)

Titel: Kaisertag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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protestierte immer stärker gegen die ungewohnte Belastung. Er richtete sich auf, so gut es ging, und fühlte dabei jeden einzelnen Wirbel.
    Da glitt er auf dem rutschigen Boden aus.
    Er wollte sich festhalten, aber seine Hände griffen ins Leere und er schlug mit der Schulter gegen die Wand. Es war kein besonders heftiger Aufprall, aber er reichte aus, um einige der morschen Ziegel an der Öffnung des Rohrs zu zerbrechen. Sie klatschten in den Schlamm, und durch die entstandene Lücke verloren sofort weitere Steine den Halt. Der sandige Mörtel zerfiel zu grobem Staub. Mit einem hellen Knirschen barst erst ein Ziegelstein, dann ein weiterer, und dann ächzte und knackte die ganze Mauer.
    Prieß warf sich zur Seite.
    Gerade noch rechtzeitig, denn nur einen Wimpernschlag später fiel die halbe Wand in sich zusammen. Ein großes Trümmerstück schlug eine Handbreit neben seinem Kopf auf.
    Es dauerte nur zwei Sekunden, dann war alles vorüber. Nachdem er seinen ersten Schrecken überwunden hatte, hob Prieß die Taschenlampe wieder auf und betrachtete fassungslos die Folgen seiner Ungeschicklichkeit. Ein großer Teil der Mauer war eingestürzt und gab nun den Blick auf schwarzes Erdreich frei. Die Öffnung, durch die er gekommen war, lag begraben unter einem großen Haufen Schutt und Erde. Der Rückweg war versperrt und ließ sich mit bloßen Händen nicht wieder freiräumen. Prieß verfluchte den Maurer, der diese stümperhafte Arbeit abgeliefert hatte; aber noch mehr verfluchte er sich selber.
    Jetzt nicht durchdrehen , beschwor er sich selbst. Ich habe mich tief in die Kacke manövriert, aber dafür kann ich mich später ohrfeigen. Ich muss Ruhe bewahren und nachdenken, wenn ich hier je wieder rauskommen will.
    Mit der Kuppe des Daumens wischte er die Dreckschicht von der Armbanduhr. Es war zwanzig vor elf. Dann zog er den gefalteten Plan des Forschungsinstituts aus dem Rucksack und suchte nach einem Ausweg. Er wusste, dass die Rohrmündung in der linken Wand der Abfluss der Straßengullys im ältesten Teil der Anlage war. Und falls die Karte noch der Wirklichkeit entsprach, gab es dort eine Verbindung zur Kanalisation des Geländes, die wiederum zum städtischen Abwassernetz führte. Er erwartete nicht, dass ihm dieser Ausgang genauso ungesichert offenstand wie der Weg, auf dem er hineingelangt war. Aber darüber würde er sich später Gedanken machen. Vorerst gab es andere Dinge, die seine gesamte Aufmerksamkeit erforderten.
      
    Den moorigen Luftzug und den Geruch von feuchter Erde, die ihm vom nahen Ende des Rohrs entgegenwehten, empfand Prieß als erfrischend nach den abscheulichen Verwesungsdünsten. Die letzten Meter legte er besonders umsichtig zurück. Als er die Öffnung erreichte, streckte er vorsichtig den Kopf heraus.
    Vor ihm lag die glatte Oberfläche des Teiches. Sein Wasserspiegel war so niedrig, dass er nicht einmal an die Unterkante des Rohrs heranreichte. Er war umstanden von alten Bäumen, die mächtig und dunkel in den Nachthimmel aufragten. Einige krumme Weiden an den Uferböschungen ließen schlaff ihre Zweige hinabhängen.
    Am gegenüberliegenden Ufer stand das alte Gutshaus, hell erleuchtet und unübersehbar. Prieß konnte kaum glauben, dass er es bis hierhin geschafft hatte. Aber nun fragte er sich, wie es weitergehen sollte. Wenn es überhaupt einen Weg gab, unbemerkt nah an das Haus heranzugelangen, dann nur außen herum durch den nach hinten gelegenen Garten.
    Langsam hangelte er sich ins Freie und erklomm mit wenigen raschen Schritten die Böschung. Im Schutz einiger Büsche ging er in tief gebückter Haltung im Zickzack auf die Lichter des Gutshauses zu, immer ängstlich darum bemüht, keine überflüssigen Geräusche zu verursachen. Er war froh, den Taucheranzug zu tragen, denn sonst hätten ihn die verfilzten Äste der Sträucher und die hohen Brennnesseln übel zugerichtet; so jedoch glitten sie an der Gummihaut ab.
    Schneller, als er gedacht hatte, war er so dicht an das Haus herangekommen, dass er ganz deutlich Stimmen aus dem Inneren hören konnte. Aber um zu verstehen, was dort gesprochen wurde, war die Distanz immer noch zu groß. Er musste sich noch weiter vorwagen.
    Das letzte Stück kostete ihn die meiste Überwindung. Immerhin blieb ihm das Anschleichen über die offene Rasenfläche des Gartens erspart, denn er hatte gemerkt, dass das Buschwerk bis an die Schmalseite des Gebäudes heranreichte, wo aus drei weit geöffneten Fenstern mehrere sich überlagernde Unterhaltungen

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