Kaisertag (German Edition)
überdrehten Künstlerin zu plaudern, war das Letzte, wonach Friedrich augenblicklich der Sinn stand. Trotzdem winkte er zurück und folgte ihrer Einladung. Durch das kniehohe Gras ging er auf den Hügel zu, den man offenbar mit dem Aushub aus den Baugruben aufgeschüttet hatte, als vor vielen Jahren das Physikalische Forschungsinstitut ausgebaut worden war. Als er den Hang hinaufstieg, fiel ihm der Zettel wieder ein, den er in Yvonne Conways Arbeitszimmer gefunden hatte. Prieß überlegte, ob er die Gelegenheit nutzen sollte, um mehr über diese rätselhafte Notiz in Erfahrung zu bringen. Aber ihm blieb nicht genug Zeit, um sich einen Plan zurechtzulegen, wie er die Engländerin aushorchen konnte, ohne ihren Argwohn zu erregen.
Ein letzter Schritt, und Friedrich Prieß stand auf der Spitze des Hügels. Die Malerin begrüßte ihn sogleich mit einem fröhlichen Redeschwall, den der Detektiv mit unablässigem Lächeln und Kopfnicken quittierte, während er ihr die Hand reichte. Begeistert ließ sie sich über das prächtige Wetter aus, über die wunderbare Landschaft und die herrliche Aussicht. Prieß fragte sich, ob diese Frau denn niemals Luft holen musste. Plötzlich brach sie mitten im Satz ab, schaute ihn an und meinte besorgt:
»Aber mein lieber Mr. Prieß, Sie sehen gar nicht gut aus. Honestly, Sie machen auf mich den Eindruck, als hätten Sie sich über etwas sehr geärgert. Nothing serious, hoffe ich?«
»Es geht schon wieder«, winkte Prieß ab, »nur ein kleiner Streit mit einem unangenehmen Zeitgenossen. Reden wir nicht darüber.«
»Oh, how sad. Sie sind ein so netter Mensch, doch jedes Mal, wenn ich Sie sehe, habe ich das Gefühl, Sie würden – wie sagt man? – troubles in sich tragen, troubles and pain. Sie benötigen dringend ein wenig Ablenkung. Please, have a look und sagen Sie mir, wie Ihnen mein Bild gefällt.«
Prieß trat neben Miss Conway und sah sich das im Entstehen begriffene Werk auf der Staffelei an. Obwohl sein Kunstverstand nicht groß war, erkannte er doch, dass die Engländerin tatsächlich ein fabelhaftes Talent besitzen musste. Sie hatte auf dem gekalkten Karton mit schwungvollen, zarten Bleistiftstrichen das Panorama eingefangen, das sich bot, wenn man vom Gipfel des Hügels aus nach Süden blickte. Einzelne, sparsam verteilte Tönungen mit transparenten Aquarellfarben verliehen der Szenerie die Illusion von Tiefe. Doch der eigentliche Blickfang war ein Schmetterling, der mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Grashalm saß. Yvonne Conway hatte ihn am rechten Rand des Bildes in den Vordergrund gestellt, groß wie zwei Hände, als säße er direkt vor den Augen des Betrachters. Dieser Schmetterling war ein wahres Meisterwerk und so faszinierend, dass Prieß für einen Augenblick alles andere vergaß. Die Flügel waren so schillernd bunt, ihr Muster so fein und phantasievoll erdacht, dass Friedrich bezweifelte, ein echter Falter könnte jemals so schön sein.
Und trotzdem war an diesem Schmetterling etwas, das ihm seltsam erschien. Etwas, das ihm bekannt vorkam, wie ein Teil einer sehr fernen Erinnerung …
»Ihnen scheint der Falter ganz besonders zu gefallen, Mr. Prieß«, sagte Yvonne Conway.
Friedrich nickte. »Wissen Sie, als ich noch ein kleiner Junge war, mochte ich Schmetterlinge sehr gerne.«
»Ich auch«, lachte sie. »Golly gee, ich bin sogar bei den Pfadfinderinnen ausgetreten, als ich dort welche fangen und auf Nadeln spießen sollte. How disgusting.«
Pfadfinderinnen! , durchfuhr es Prieß. Aber natürlich, das war es!
Plötzlich hatte er eine Idee, die ihm zuerst absurd schien. Doch als er die so ungewöhnlich gezeichneten Flügel des großen Schmetterlings noch einmal betrachtete, diesmal nicht ihrer Schönheit wegen, sondern auf der Suche nach etwas, an das er sich nur vage erinnerte, wurde ihm klar, dass er mit seinem Verdacht ins Schwarze getroffen hatte. Er ließ sich aber nichts anmerken und sagte beiläufig:
»Ich war leider nie bei den Pfadfindern … nicht einmal beim Wandervogel. Ich habe schon viel über die berühmten britischen Boy Scouts gehört, und natürlich auch über die Girl Scouts. Wenn ich mich nicht irre, wurde diese Bewegung von Sir Baden-Powell ins Leben gerufen, nicht wahr?«
»Amazing, Mr. Prieß, Sie wissen wirklich ausgezeichnet Bescheid. Ja, Robert Baden-Powell hat die Pfadfinder gegründet. In 1908, as far as I know. Nicht viele kennen heute noch seinen Namen.«
»Meine verehrte Miss Conway, ich werde diesen Namen nie
Weitere Kostenlose Bücher