Kaisertag (German Edition)
vergessen, weil er für mich mit der Erinnerung an die spannendsten Stunden meiner Kindheit verbunden ist. Zu meinem zehnten Geburtstag bekam ich nämlich eines von Baden-Powells Büchern geschenkt. Es war eine ungemein fesselnde Lektüre, die ich gar nicht aus der Hand legen mochte. Vielleicht kennen Sie es ja – es ist in Deutschland unter dem Titel Meine Abenteuer als Spion erschienen.«
Aufmerksam beobachtete Prieß, wie das Lächeln in Yvonne Conways Gesicht unvermittelt fahl und flach wurde. »Too bad«, erwiderte sie, »I’ve never heard of it. Aber als ich ein junges Mädchen war, habe ich die historischen Romane von Patricia DeHavilland besonders …«
»Baden-Powells Buch war hochinteressant«, fuhr Prieß unbeirrt fort, »und sehr aufschlussreich. Der Mann schilderte darin unter anderem, wie er während seiner Zeit als britischer Spion im Ausland mit einfachen, aber wirksamen Methoden seine Absichten verborgen hat. Einmal hat er sich als Botaniker ausgegeben und in dieser Verkleidung Skizzen von Festungsanlagen gemacht. Er wurde mehrmals kontrolliert, aber niemandem fiel auf, dass die feinen Adern der gezeichneten Efeublätter in seinem Skizzenbuch den Grundriss der Festung mit allen Geschützbatterien darstellten.«
Die Engländerin begann, nervös zu werden. »Äußerst faszinierend, my dear Mr. Prieß. Oh, ich fürchte, ich muss nun meine Malsachen zusammenpacken und mich verabschieden …«
Sie wollte von ihrem Falthocker aufstehen, doch Prieß hielt sie an der Schulter fest. »Auch die Rolle eines Schmetterlingskundlers eignete sich für diese Täuschungsmanöver. Er konnte in den Zeichnungen originell gemusterter Falter detailreiche Pläne militärischer Anlagen unterbringen, für jeden sichtbar und dennoch gut versteckt. Schmetterlinge, Miss Conway – solche wie dieser dort.«
Nach vielen Jahren als Privatdetektiv wusste Prieß genau, wie jemand aussah, der sich überführt wusste. Er hatte Miss Conway die Maske heruntergerissen, hinter der sie sich völlig sicher geglaubt hatte, das verriet ihm jedes Zucken ihrer Gesichtsmuskeln und die Art, wie sie nach Worten suchte. Es waren die typischen Reaktionen eines Menschen, der sich von einer Sekunde auf die nächste in die Ecke gedrängt wiederfindet und der nun verzweifelt nach einer Möglichkeit sucht, sich wieder herauszuwinden. Aber dem schob Prieß sogleich einen Riegel vor.
»Geben Sie sich keine Mühe, Miss Conway. Es ist eindeutig, dass Ihr Interesse nicht der netten Landschaft galt, sondern dem Forschungsinstitut … das Sie von hier aus zu einem guten Teil überblicken können.« Er zeigte auf den gemalten Schmetterling und fuhr in der Luft mit der Fingerspitze einige der Linien nach. »Das Grüne ist die Grenze des Areals, die roten und blauen Punkte stellen auffällige Gebäude dar – nicht unbedingt so exakt wie ein Messtischblatt, aber völlig ausreichend beispielsweise, damit Luftkreuzer die Ziele für ihre Bomben finden können …«
Yvonne Conway sah ihn an. Sie hatte begriffen, dass sie keine Chance mehr hatte, sich mit Ausreden aus der Sackgasse zu befreien. Erstaunlich gefasst und ruhig sagte sie: »Kompliment, Herr Prieß. Sie haben Ihre Aufgabe perfekt ausgeführt. Ich hätte wissen müssen, dass sich das RMA nicht so leicht täuschen lässt, schon gar nicht, wenn es um die Atombombe geht. Nun werden Sie mich vermutlich der Feldgendarmerie übergeben, liege ich da richtig?« Mit der überzogenen Lebhaftigkeit war auch die wüste Mischung aus Deutsch und Englisch verschwunden, sie sprach nun fast akzentfrei.
»Das kann ich leider nicht beurteilen, Miss Conway. Ich bin nicht vom RMA.«
Sie erschrak. »Oh, mein Gott … dann sind Sie vom IV. Büro? Alles, aber nur kein Verhör durch Ihre Leute!«
Prieß schüttelte den Kopf. »Weder weiß ich, was dieses IV. Büro ist, vor dem Sie offensichtlich so große Angst haben, noch bin ich vom Reichsamt für Militärische Aufklärung. Und ich habe auch nicht vor, Sie der Feldgendarmerie auszuliefern. Ich bin Privatdetektiv und mache nur das, wofür mich jemand bezahlt. Aber niemand bezahlt mich dafür, Spione zu fangen. Sie haben nichts zu befürchten, wenn Sie mir einige Fragen beantworten.«
Er wusste, dass sein Verhalten nicht sehr patriotisch war, aber seiner Ansicht nach hatte das Vaterland schließlich auch nach Kräften dafür gesorgt, dass sein Patriotismus nicht in den Himmel wuchs.
Ihre Miene entspannte sich wieder, doch ein unübersehbarer Zug von Misstrauen blieb
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