Kaisertag (German Edition)
waren Ambulanzwagen aufgefahren, überall lagen auf Tragen Verletzte mit blutdurchtränkten Verbänden. Viele hatten schmerzverzerrte Gesichter, andere waren mit Medikamenten ruhiggestellt worden und starrten apathisch in den Himmel. Sanitäter versorgten notdürftig diejenigen, die es am schlimmsten getroffen hatte, um sie in die Krankenhäuser bringen zu können.
Alexandra suchte Friedrich, und schließlich fand sie ihn. Er lag am Fuße des Kriegerdenkmals unter der Leiche eines anderen Mannes, dem man den halben Kopf weggeschossen hatte. Sein Gesicht war überzogen mit einer gerinnenden dunklen Mischung aus Blut und Hirn. Er bewegte sich nicht, und es sah so aus, als wäre er tot. Die überforderten Sanitäter hatten ihn daher, wie alle Leichen, erst einmal liegen gelassen, und sich stattdessen um die Lebenden gekümmert. Alexandra stand neben ihm und blickte ihn an. Sie war unfähig, einen Gedanken zu fassen. Sie stand nur stumm dort, regte sich nicht und sah auf Friedrich Prieß hinab.
Bis ihr dann ein leichtes Zucken seiner Hand verriet, dass er lebte. Der fallende Körper des anderen Toten hatte ihn umgerissen, sodass der für ihn bestimmte zweite Schuss ihn verfehlt hatte. Er war mit dem Hinterkopf auf den Sockel des Denkmals geschlagen und ohnmächtig geworden. Das war seine Rettung, denn deswegen hatten ihn die Mörder für tot gehalten.
So unauffällig wie möglich ließ Alexandra Dühring Prieß zu sich nach Hause schaffen. Die Haushälterin schickte sie in den Urlaub; je weniger Menschen wussten, dass der Detektiv noch am Leben war, desto besser. Dann sorgte sie dafür, dass sein Name in die Liste der Todesopfer aufgenommen wurde, die von der Lübecker Polizei an die Presse ausgegeben wurde. Wenn die Täter Prieß’ Namen in der Zeitung lasen, würde es sie vielleicht in ihrer Überzeugung bestärken, erfolgreich gewesen zu sein. Das würde ihn vor weiteren Mordanschlägen schützen, zumindest für eine Weile.
»Du hast mich für tot erklären lassen?«, fragte Prieß ungläubig, nachdem Alexandra zu Ende gesprochen hatte.
»Ach was!«, antwortete sie. »Du weißt doch ganz genau, dass das nicht so einfach geht. Welcher Arzt würde mir denn deinen Totenschein ausstellen? Nein, dein Name ist heute Morgen nur in allen Zeitungen Deutschlands. Übrigens habe ich auch schon deine Sachen aus dem Hotel holen lassen, und dein Auto steht sicher auf dem Polizeigelände. Können wir später über alles reden? Ich muss jetzt unbedingt los.« Sie stand auf und strich sich den Rock glatt.
Prieß setzte sich auf. »Warte eine Sekunde! Du musst versuchen, Pläne vom Forschungsinstitut aufzutreiben, besonders von der Kanalisation!«
»Von der Kanalisation? Was hast du denn damit vor?«
»Das sage ich dir heute Abend, die Erklärung wird ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen. Überhaupt habe ich jetzt einiges, was ich dir erzählen muss …« Er blickte an seinem Oberkörper hinab und setzte dann mit verunsicherter Miene hinzu: »Sag mal, hast du mir etwa den Pyjama angezogen?«
Hintergründig lächelnd erwiderte Alexandra: »Bloß keine falsche Scham. Ich weiß schließlich, wie du im Adamskostüm aussiehst, oder hast du das vergessen? Jetzt muss ich mich aber wirklich auf den Weg machen. Ich will sehen, was ich wegen der Pläne machen kann. Und wenn du was lesen möchtest, bis ich zurück bin – auf das Tablett habe ich ein Buch gelegt. Ich fand’s faszinierend, vielleicht gefällt es dir ja auch. Also, bleib im Bett und ruh dich aus. Ich will nicht, dass du mir hier zusammenklappst, nachdem ich Blut und Wasser deinetwegen geschwitzt habe.«
Sie verließ den Raum.
Prieß brauchte einige Augenblicke, um seine Gedanken zu ordnen; dann nahm er die Tasse vom Tablett und trank einen Schluck Kaffee.
Das Buch war eine Enttäuschung. Irritiert blätterte Friedrich Prieß in dem dicken Roman und fragte sich dabei immer wieder, wie sich Alexandra nur für einen solchen ärgerlichen Schund begeistern konnte. Vor nichts hatte die absurde Phantasie des Autors haltgemacht. Die gesamte Handlung stützte sich auf die wilde Spekulation, welchen Lauf die Geschichte hätte nehmen können, wenn der österreichische Thronfolger während einer Balkanreise im Jahr 1914 Opfer eines Attentats geworden wäre. Daraus hatte der Verfasser dann ein zwanzigstes Jahrhundert konstruiert, in dem zwei weltumspannende blutige Kriege kurz aufeinandergefolgt waren, in denen Deutschland jeweils auf der Seite der Verlierer stand. Das
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