Kaktus zum Valentinstag
mir diese Frau von hinten an, weil sie mich dann nicht sehen kann. Und über die Schwingungen hinaus sind es ihre knapp sitzenden weißen Klamotten, die mich regelrecht angeilen.
Was mich hier zusätzlich anspricht, ist, dass diese Frau anscheinend nicht dauerhaft in diese Zahnarzthelferinnenwelt passt. Sie könnte eine Ärztin sein, ist es aber offenbar nicht. Sie hat irgendetwas an sich, das sie anders macht als die anderen. Genauso, wie ich mich immer anders fühle.
Damit der Gebiss-TÜV möglichst angenehm verläuft, mache ich es mir auf dem Behandlungsstuhl bequem. Kurze Zeit darauf erscheint der Zahnarzt. W. z. . w., wie zu erwarten war, findet er natürlich erhebliche Mängel im Gebiss. Ja, da sei ja sogar ein ganzer Zahn weg. Mir ist da mal ein Zahn gezogen worden, und diese Lücke gibt es bisheute. Nun wird das Ding ernst. Eine Brücke soll ich hier endlich mal bekommen. Die Behandlung wird also noch länger dauern, und teuer wird es auch.
Aber die Zahnlücke ist nicht alles, was zu behandeln ist. An eine weitere kleine Kariesstelle geht er sofort heran. Während er sich mit meinem Gebiss beschäftigt, mustere ich die Frau. Zunächst verfolge ich jede einzelne Naht, jedes Detail ihrer Klamotten. Und ich versuche, sie anzuschauen. Besonders intensiv, ohne ihr dabei in die Augen zu blicken.
Denn das kann ich nicht, dafür habe ich ja den Nasenwurzelblickkontakt. Den habe ich mal in einem Rhetorikkurs gelernt. Der Blick sieht für andere so aus, als würde ich sie anschauen, in Wahrheit aber sehe ich knapp an den Augen vorbei. Warum ich anderen Menschen nicht in die Augen schauen kann, weiß ich nicht.
Die Schwingungen, die mich erreichen, werden stärker. Ich bin beim Zahnarzt und erlebe sehr seltsame Emotionen, die sich in mir regen wollen. Aber ich spüre auch wieder diese Mauer.
Es ist, als wenn ich auf meiner Lebensstraße in einem sanft hügeligen Gebirge umherfahre, um die Kurve komme und die einst von Ferne gesehenen spitzgratigen Berge auf einmal deutlich näher vor mir liegen. Sie sind die Mauer, die es auf dem Weg zur Befriedigung der Liebessehnsucht zu überwinden gilt. Zweigt hier etwa die Straße ab, die durch und über dieses schier unüberwindbare Gebirge führt? An einer Stelle, an der ich rational nie nach einem Pass gesucht hätte? Beim Zahnarzt, nicht etwa beim Tanzen oder in einer Disco? Aber diese Stelle sieht irgendwie gar nicht aus, als wenn man hier die Berge überqueren könnte.
In diesem Moment erinnere ich mich an Island, wo ich auf einer Reise kurz nach meinem Abitur einer Lehrerin geholfen habe, einen tiefen, eiskalten und stark strömenden Gletscherfluss brückenlos zu queren. Damals sagte ich ihr: »Einen reißenden Fluss durchquerst du nicht an seiner schmalsten, sondern an seiner breitesten Stelle.« Denn dort, wo der Fluss schmal ist, ist er schnell und besonders tief. Wo der Fluss aber breit ist, ist er langsam und flach.
Da, wo es einfach aussieht, ist es am schwersten. Und da, wo es kompliziert scheint, ist es einfach. Ob das jetzt hier im Lebensgebirge auch so ist? Es ist eine ganz eigenartige, von ganz innen kommende Stimme, die mir auf einmal sagt: »Hier bist du richtig. Nicht beim schmalen, reißenden Tanzen, wo es möglicher aussieht, sondern hierist dein Weg. Und die Wege der anderen, die funktionieren für dich sowieso nicht! Und die Wege, die du gehen musst, funktionieren andersherum für die anderen nicht. Gehe immer deinen Weg, wenn du dich nach den anderen richtest, wirst du deinen Weg nie finden!«
Dieses Gebirge ist ein anderes Bild für meine eigenartige Mauer, die meine Kommunikation entfremdet und blockiert. Verdammt noch mal, wie fange ich bloß ein Gespräch mit dieser weißgehosten Frau an? In diesem Moment erinnere ich mich an die erste Lektion in ostpreußischer Flirtkunde, die mir meine Vermieterin erteilte.
Lächeln. Da war was! Lächeln. Da ist was! Also lege ich ein breites Grinsen auf. Während der Zahnarzt mit seinen Bohr-, Schmirgel- und Schleifapparaturen in meinem Mund herumfummelt, beginne ich, die Theorie aus der Flirtkunde in der Praxis auszuprobieren.
Ich habe auch keine Ahnung, ob sie von mir Notiz genommen hat. Oder ob ich bei ihr nur einer von vielen Patienten bin. Woran soll ich das bloß merken? Das ist doch hier keine Disco, wo ich jetzt einfach fragen könnte, ob sie vielleicht eine Frau ist, die man mal kennen lernen und später heiraten kann.
Irgendwann ist die Behandlung zu Ende. Ich stehe auf, vereinbare bei einer
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