Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
dem er noch nicht wusste, unter seinem Kopf im Handschuh. Jack wachte vollkommen angezogen auf und hielt sich den Kopf. Er sah seinen Sohn an, die Großmutter und das Foto, das in einem billigen Rahmen an der Wand über dem Sofa, seinem Bett, hing.
Es hätte ein Filmplakat sein können. Unter dem Triumphbogen lächelt eine hinreißend schöne, junge Frau mit rabenschwarzemHaar und Hollywood-Wimpern vergnügt in den Armen eines gut aussehenden amerikanischen Sanitäters.
Jack betrachtete das Foto eine ganze Weile. »Jill«, sagte er sehnsüchtig mit staubtrockenem Mund. »Jack und Jill.«
Er stand auf und wankte zum Fenster, wo noch die Wasserkanne stand, und trank Wasser direkt von ihrem metallenen Schnabel. Da erst schaute Jack nach draußen und merkte es.
Die Mauer der Mietskaserne gegenüber glühte rosig im Licht der schon längst aufgegangenen Sonne.
»Scheiße!«
Sally Price kam aus dem Gefängnis auf die offene Straße hinaus, in der es von Menschen nur so wimmelte. Was auf den ersten Blick wie ein Straßenfest aussah, war in Wirklichkeit eine Versammlung von Bürgern, die gegen die Haftbedingungen im Zuchthaus protestierten.
RESOZIALISIERUNG STATT KNAST – in Schönschrift auf einem feucht flatternden Spruchband. WÜRDIGE ARBEIT forderte ein Schild daneben.
Einige der reichsten Bürger der Stadt waren gekommen, um ihren Fortschrittseifer zur Schau zu stellen und darauf zu drängen, dass man die Bedingungen änderte, unter denen Sally gerade erst hatte leiden müssen. Sie schienen so ernst, diese Neureichen, so für die gute Sache glühend, die keine Mühe kostete; die Frauen in Sommerkleidern und Topfhüten, Gebinde aus Perlenschnüren um die Hälse geschlungen; die Männer leger in weiten Oxford- oder Reithosen zusammenstehend und die Augen von Melonen oder Chauffeursmützen beschattet.
Den Blick auf den Boden geheftet, kämpfte sich Sally an der wohlmeinenden Menge vorbei. Es war schwer, sich nach der Haft von so viel Aktivität nicht ablenken zu lassen. Überall Frauen und Männer, die Fahnentuch an Buden nagelten, die im Landschaftspark gegenüber errichtet worden waren, und die Stimmen zu trällernden Aufrufen, Liedern oder Gebeten erhoben.
Vergnügungssuchende und Neugierige trugen noch zu dem Gedränge bei. Es waren mindestens ein Dutzend Fahrradfahrer dort – eine wahre Plage –, die ihre lächerlichen Geräte vorführten und die Proteste von Straßenbahnfahrern auf sich zogen, wenn sie auf den Gleisen Mutproben vollzogen. Straßenverkäufer verhökerten Waren aus aller Herren Länder von Karren aus, die eine Barriere entlang der Straße bildeten.
Sally atmete tief ein. Essen! Der Geruch von Würstchen und Chili und Zimt! Aber zuerst der Brief. Sally kramte in ihrer Stofftasche nach dem braunen Umschlag. Sie öffnete ihn vorsichtig, fast ehrfürchtig. Neben dem erwarteten Brief fand sie auch ein paar Zehndollarscheine. Sie zählte schnell nach.
Fünfzig Dollar!
Schnell hatte sie hinter einem Verkaufskarren ein Eckchen gefunden, wo sie ungestört war. In Sekunden schlang sie das erste richtige Essen seit anderthalb Jahren hinunter, den Brief auf ihren Knien ausgebreitet, während das Chili aus ihrem Coney Dog auf eine aus der letzten Enquirer -Ausgabe gefertigte Serviette troff.
Liebe S.,
Du bist draußen! Fantastisch! Wir sehen uns, aber erst irgendwann gegen Abend. Es kann spät werden. Das Bargeld im Umschlag wirst Du schon gefunden haben, also mach Dir einen schönen Tag und geh dann zum Hotel Milner. Es liegt in der Nähe der Vine Street. Dort ist ein Zimmer auf Deinen Namen reserviert. Melde Dich dort gegen fünf Uhr an, gönn Dir ein gutes Abendessen und warte auf mich. Ich freue mich darauf, Dich zu sehen,
Alex Goodman
Sally las die ausführlichen Anweisungen noch einmal. Dann steckte sie den Brief wieder in den Umschlag, stopfte ihn zusammen mitdem Bargeld in ihre Bluse und hielt dann einen Moment inne, um nachzudenken.
Es war noch lange hin bis fünf Uhr. Wie sollte sie ihren ersten Tag in Freiheit verbringen?
Sally richtete sich plötzlich auf. Entschlossen ging sie zur Vorderseite des Hotdog-Karrens. Sie wartete, bis der Verkäufer sie bemerkte.
»Ja?«
»Gibt es von hier aus eine Straßenbahn rüber zur Vine Street?«
»Ja, die muss jeden Augenblick kommen.«
»Und komme ich auch von der Vine Street aus zum Zoo?«
»Mit der Nummer 78.« Er hatte eine Zigarette zwischen den Lippen. »Die fährt direkt dorthin.«
Jack Romaine sah Sally Price nicht, wie sie sich ihren
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