Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
konnte die komplizierten Besitzverhältnisse des Royal American oder der Amusement Corporation of America genauso präzise nachzeichnen wie ein Biograf die Lebensgeschichten von Carnegie oder Mellon.
Je mehr der Zwerg trank, desto ungenauer wurde er aber, wandte sich von den Tatsachen ab und erfundenen Geschichten zu und ersann Erlebnisse, bei denen immer Mädchen, Karten und Alkohol im Spiel waren, und behauptete, bei jedem bedeutenden Ereignis der Geschichte an vorderster Front mit dabei gewesen zu sein.
»Ich war 1901 in Buffalo, als Präsident McKinley erschossen wurde.«
»Neunzehnhunderteins«, wiederholte Half Track und zeichnete das Datum mit einem Löffel auf Slates Palimpsesthaut.
Eine ungeheuerliche Lüge nach der anderen. Oder vielleicht auch ungeheuerliche Wahrheiten, das schien niemanden zu interessieren.
Jeder Freak, Messerwerfer und Schwertschlucker im Zelt gab Geschichten zum Besten und verwob Begebenheiten, Historien und Ahnenreihen miteinander, die dem Außenstehenden überhaupt nichts sagten. Es gab aber zwei neue Gesichter, die Jack bekannt vorkamen.
Es waren Zwillinge, zwei gut aussehende Brünette, beide mit freundlichem, fröhlichem Gesichtsausdruck. Irgendwie sexy.
Er stieß Half Track an.
»Kennst du die beiden?«
»Welche beiden?«
»Bei Jo Jo. Die sich den Rücken zukehren.«
Ihr Blick folgte seinem Finger und sie prustete. »Die kehren sich doch nicht den Rücken zu, du Schwachkopf. Die sind am Rücken zusammengewachsen .«
Selbst Jack hatte schon von den berühmten Hilton Sisters gehört und jetzt fiel ihm wieder ein, wo er sie schon einmal gesehen hatte. In einem Varieté in Chicago. Die Zwillinge waren die Hauptattraktion gewesen, zwei lieblich harmonisierende Stimmen, für immer vereint. Er hatte nachher sogar ein Foto gekauft, das ebenso wie die dazugehörige Broschüre beweisen sollte, wie vollkommen angepasst und normal die Schwestern waren. Jack konnte sich jetzt deutlich an das Foto erinnern. Zwei junge Frauen, die Rücken an Rücken mit zwei lächelnden, gut gekleideten Beaux tanzten.
Da saßen sie also, noch zwei Missgeburten, siamesische Zwillinge, keine drei Meter von Jacques und Marcel entfernt. Aber im Gegensatz zu den Svengali-Geigern waren die Hilton Sisters berühmt.
Ob sie auch reich waren?
Jack rückte rüber zu Tommy Specks Frau.
»Jemand hat gesagt, das wären die Hiltons da drüben«, sagte er.
Sie bestätigte es mit einem Lächeln.
»Die sind ziemlich berühmt, oder?«
Sie lächelte wieder. »Tommy hat schon angedeutet, dass Sie nicht der Hellste sind.«
Wohl schon wieder eine Sackgasse. Aber Jack durfte nicht lockerlassen.
»Jack Romaine. Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.«
»Eileen. Schön, Sie kennenzulernen.«
»Stimmt’s, dass die Schwestern zum Film gehen? Ich habe was von einem Tonfilm läuten hören.«
»Das sind echte Profis«, sagte sie nickend.
»Kein schlechtes Leben«, erwiderte Jack.
»Kommt drauf an.« Sie zuckte mit den Schultern und ihr Ton änderte sich.
Jack beugte sich zu ihr rüber. »Haben die beiden Probleme?«
Klatsch. Damit hatte er Eileen am Haken.
»Es heißt, ihre Manager würden sie fast wie Sklaven halten«, sagte sie und ihre kleinen Nasenlöcher blähten sich auf. »Sie sehen keinen Heller von ihren Einnahmen. Sie wohnen in einer Villa in San Antonio, aber die ist quasi ihr Gefängnis. Die armen Dinger bekommen nie einen Mann zu sehen, außer bei irgendwelchen Werbeaktionen. Sie kommen nie mal raus, außer wenn die Meyers es wollen.
Einen Monat lang haben sie versucht, diesen Mistkerlen zu entwischen, bis es endlich geklappt hat. Die Meyers glauben, die Mädchen wären in Saratoga. Luna hat sie hergebracht, damit sie in Tampa zum Anwalt gehen. Sie will sehen, ob sie sie von Meyer und Edith loseisen kann. Die beiden, die sind ja nicht mal ihre richtigen Eltern!«
Hier ließe sich einiges herausfinden. Zum Beispiel, warum Luna Chevreaux einen Anwalt kennt, der profiliert genug ist, um die Hilton Sisters zu vertreten. Aber bevor Jack die Frage auch nur formulieren konnte, war Eileen schon wieder bei ihrem Mann und weiteren Schaustellermären.
Personen und Orte. Namen über Namen. Bill Lynch und die Lee-Brüder. Carl Sedlmayr. Nat Worman (»… Ist irgendwas kaputt, dann wende dich an Nat …«)
In dem Baldachinzelt erfuhr Jack alles über Tom Thumb und Little Egypt. Die Freaks redeten und redeten; und als das Licht der Laternen schwächer wurde und die Schatten aus den Ecken krochen, ließen ihre
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