Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
preschen über mich hinweg. Da sehe ich die Muttersau angaloppieren.
Ich ahne, dass Lothar mir was in den Kaffee getan hat. Und dass er mich den Schweinen zum Frühstück vorsetzen will.
Nur dumm, dass er offenbar der Nachtisch wird.
»Mahlzeit!«
8:11 Uhr
Jetzt fängt das Aas auch noch an zu lachen!
»Blöde Kuh!«
8:11:20 Uhr
Der Eber beißt ihm in die Wade, ich höre Knochen brechen.
08:12:00 Uhr
Wieso hat sie genau heute meinen Tee präpariert, am 1. Mai, mit … ja, K.-o.-Tropfen, es müssen diese verdammten … o nein. Oneinoneinonein!
»NEIN!«
10:12:30 Uhr
Die Muttersau lässt sich auf mich fallen. Meine gebrochenen Rippen bohren sich mit einem nassen Ssrtsch in meine Lunge, meine Gedärme.
Jetzt liege ich direkt vor Lothars Gesicht. Er schaut mich an und in seinem Blick steht alles, was zu absurd ist, um möglich zu sein. Und doch …
Beim Sprechen suppt mir etwas Warmes aus dem Mund.
»Kämest du eines Tages wieder …«
»… Geliebte …«
10:12:35 Uhr
»Mario … mein Mario …«
»Perlchen!«
Pfingsten
Pfingsten wird gefeiert am fünfzigsten Tag nach Ostern, zwischen dem 10. Mai und dem 13. Juni – die Christen erinnern mit dem Fest an die Entsendung des Heiligen Geistes unter die Jünger: ›Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. (…) Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen‹ (Luther-Bibel: Apostelgeschichte 2, 1–5). Zur Erleuchtung pilgern jedes Jahr zahlreiche Christen nach Werl. Darunter allerdings auch mitunter etwas seltsame Gestalten wie etwa die, von der Lucie Flebbe erzählt.
Lucie Flebbe
Zur Erleuchtung nach Werl
Tock. Sein Pilgerstab traf einen Stein und rutschte ab. Willi verlor auf dem feuchten Untergrund fast das Gleichgewicht.
Tock-Tock. Auf dem schmierigen Trampelpfad marschierte er an dem meterhohen Zaun entlang, der den Werler Stadtwald teilte. Wie damals an der Gefängnismauer. Allerdings hatte der Zaun Schlupflöcher. Er war ein Relikt aus der Zeit, als die Kanadier in Werl stationiert waren. Hier im Stadtwald war ihr Militärcamp gewesen, zwei komplette Dörfer hatten sie hinter dem Zaun zurückgelassen, als sie vor knapp zwanzig Jahren abrückten. Als Jugendlicher war Willi durch die Ruinen gestreunt. Mitten im Wald stieß man auf eine verlassene Kirche, eine Turnhalle, sogar ein Kino. In den ehemaligen Soldatenunterkünften hingen noch Lampen an den Decken, in der Bar stand eine Theke, samt Spüle und Kühltruhe. An der Wand hatte jemand mit viel Freizeit Marilyn Monroe porträtiert. Es schien, als wären die Bewohner nur kurz hinausgegangen. Unheimlich. Mit einem Luftgewehr hatte Willi in den Ruinen herumgeballert, zum Spaß.
Tock. Stop. Willi lugte durch den Zaun. Nach seinem JVA-Aufenthalt hatte er sich hier nicht mehr herumgetrieben. Hatte wohl doch was gebracht, der Strafvollzug. Tatsächlich war Willi nicht unbedingt unglücklich über die Zeit im Gefängnis. Dort hatte er was fürs Leben gelernt – nicht nur den Beruf des Tischlers, der hatte ihm draußen sowieso nichts genutzt. Sein Lehrbetrieb machte sich nicht gut im Lebenslauf. Doch im Krafttrainingsraum der Anstalt hatte er begriffen, was Muttern offenbar vergessen hatte, ihm beizubringen: dass Muckis mehr bringen als Schule.
Tock-Tock. Er rückte seinen gewichtigen Pilgerrucksack zurecht und marschierte weiter. Weil ihn nach der Haftentlassung weder Tischlereien noch die bekannte Werler Sauerkrautfabrik beschäftigen wollten, war er nach langer Zeit mal wieder bei der Heiligen Mutter Maria in der Basilika, der Wallfahrtskirche, aufgekreuzt und hatte ihr sein Herz ausgeschüttet. Und plötzlich hatte eine Stimme aus dem Dunkel des Beichtstuhls gesagt: »Geh doch als Preisboxer auf den Jahrmarkt. Da kriegste Geld, wenn du wen vermöbelst.«
Die Heilige Mutter hatte durch den Mund eines jungen Franziskanermönchs zu Willi gesprochen und ihn erleuchtet. Ein Jahr später war Willi Eigentümer einer florierenden Boxbude, mit der er über die Jahrmärkte am Hellweg tingelte: Willi Depp – Boxen und Kraftsport .
Tock. Und dann war auch noch die Anneliese wieder in seinem Leben aufgetaucht. Das war ein wirkliches Wunder gewesen. Geschieden, mit einer zehnjährigen Tochter im Schlepp, schien sie vergessen zu haben, dass sie ihn früher als Depp besungen
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