Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
mehr genug für Anneliese, Muttern und Willi selbst. Zumal ihm auch schon zweimal die Mittelhand zersplittert war. Außerdem: Jedes Wochenende eins in die Fresse, davon hatte er die Schnauze voll. So ging das nicht weiter.
»Als Familienernährer bringste es nicht, Depp«, beschwerte sich Anneliese, als er ihre Handyrechnung nicht bezahlen konnte, weil er die Füße bereits seit drei Wochen wieder unter Mutterns Tisch stellte. »Wenn das so weitergeht, gibt’s bald nur noch Hartz IV.«
»Red keinen Quatsch«, sagte Willi, fest entschlossen, sein Glück auf dem Arbeitsmarkt zu suchen.
Doch so einfach war das nicht. Früher, als Werl noch Sälzerstadt war, da hatte es Arbeit genug gegeben, in den Salinen. Auch für Leute wie ihn, die es mit der Schule nicht so gehabt hatten. Da konnte man es noch zu etwas bringen. Zu dem winzigen Fachwerkhäuschen zum Beispiel, in dem Willi mit der Anneliese bei Muttern lebte. Ein echtes Salzarbeiterhäuschen, auch wenn man das Fachwerk nicht sah, weil es im Modernisierungswahn der Sechziger überputzt worden war.
Heute war das schwieriger mit der Arbeit. Wenn man kein Mönch werden wollte, blieben die Metallwerke in der Stadt, der Autoteilehändler draußen im Gewerbepark und eben die JVA als größter Arbeitgeber in Werl übrig. Dreimal hatte Willi es beim Knast versucht, aber immer ritten die auf der Sache mit dem Schulabschluss herum und waren pingelig wegen der Vorstrafe – obwohl Willi ja gerade in seinen vier Jahren als Insasse einen guten Einblick in den Job bekommen hatte.
Schließlich war er auf die Idee gekommen, mal wieder die Heilige Mutter Maria zu fragen. Die hatte ihm immerhin schon bei der Sache mit der Boxbude geholfen.
Also saß er wieder lange in der Basilika, neben der Säule, wo die warme Heizungsluft aus den Metallrosten strömte. Aber die Erleuchtung ließ auf sich warten.
Gut, Willi sah ein, dass man als Gottesmutter viel zu tun hatte und sich nicht um alles sofort kümmern konnte. Man musste Geduld haben mit der Heiligen Mutter.
Doch langsam wurde die Sache mit dem neuen Beruf dringend. Zwar war Annelieses Tochter zum Vater gezogen, aber die Anneliese hatte wieder angefangen, bei diesen Shoppingsendern im Fernsehen zu bestellen. Und Muttern brauchte so einen Treppenlift.
Geduldig lief Willi jeden Sonntag in die Kirche. Aber der Pfaffe im Beichtstuhl rückte nicht raus mit der Sprache, wenn Willi nach seinem beruflichen Weg fragte. Beten und beichten reichte anscheinend nicht, um der Heiligen Mutter Feuer unterm Arsch zu machen. Da war er auf die Idee mit dem Pilgern gekommen.
Das Pilgern bot sich ja an, hier in Werl. Im Sommer marschierten ständig Menschen Richtung Basilika. Stundenlang beteten die Wallfahrer im Schatten der gewaltigen Mauern und der uralten Bäume auf dem Kreuzweg – einem geheimnisvollen Ort mystischer Ruhe, mitten in der Innenstadt – um danach von der heiligen Mutter erleuchtet zu werden.
Da musste was dran sein, denn letzte Woche erst waren die Portugiesen wieder da gewesen. Die kamen jedes Jahr (mit dem Bus) und veranstalteten ein richtiges Fest auf dem Marktplatz. Dann zog der Geruch gegrillter Sardellen durch die Straßen und der Rotwein funkelte purpurn in den Gläsern. Mutterns Kegelklub pilgerte ebenfalls. Und sogar der Kerkeling war doch erleuchtet worden! Na ja, der war auch gleich bis Spanien gewandert. Übertreiben wollte Willi die Pilgerei nicht. Er brauchte ja nur einen kleinen Tipp in Sachen Arbeit. Deshalb wanderte Willi seit einer Woche der Einfachheit halber rund um Werl herum. Ganz altmodisch zu Fuß, denn für eine echte Erleuchtung musste man sich schon anstrengen. Tock.
Kommissarin Lara Simonis schmeckte ihre eigene Magensäure bitter im Rachen, als sie das Opfer sah. Sie schluckte mühsam. Auf keinen Fall würde sie dem Kollegen Krämermeier den Gefallen tun und ihm auf seine handgenähten, vom Schwiegerpapa gesponserten Lederschuhe kotzen.
Der Kopf der Toten war nach vorn gekippt, wie bei einer abgelegten Marionette. Das Kinn auf der Brust, knapp über der Aufschrift ihres Shirts. SexyHexi stand da in Weiß auf rosa Grund. Ihre lockige Mähne fiel ihr, der Schwerkraft folgend, ins Gesicht. Staunend starrte sie auf die Dose Wiener Würstchen zwischen ihren Schenkeln. Besser gesagt, an der Innenseite ihres rechten Oberschenkels, denn ihr gesamtes linkes Bein – fehlte. Jemand hatte den Oberschenkelknochen aus der Hüfte gelöst. Im blutigen Fleisch schimmerte die knöcherne Gelenkpfanne bläulich
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