Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
die Kraft auf, zu fliehen. Sein Zeh hämmerte, seine Augen tränten. Er besaß gerade noch Geistesgegenwart genug, seine Hose zu verschließen.
»Schönen guten Morgen«, krähte der Polizist fröhlich und schwang sich vom Rad. »Na was hamse denn da? Blümchen für mich?« Er lachte über seinen eigenen Scherz und ließ suchend den Blick schweifen. »Beiske, Polizei Fröndenberg«, erklärte er dabei. »Wir haben vorhin einen Anruf von einer Spaziergängerin gekriegt, dass hier …« Er stockte plötzlich und betrachtete Hajo mit einem Mal intensiver. »Moment mal, Sie sind doch der, der …«
Hajo nickte kraftlos.
Einen Moment war es sehr still. Dann griff der Polizist vorsichtig nach den Handschellen an seinem Gürtel.
Und im nächsten Augenblick beförderte keine fünfzig Meter von ihnen entfernt der große stählerne Rechen des Wasserkraftwerks das Treibgut aus den Fluten der Ruhr und transportierte es langsam und mit metallischem Quietschen in die Höhe, um es auf den Abraumhaufen zu schaufeln.
Die Blicke der beiden Männer waren starr auf den Anblick des nassen Unrats geheftet. Zweige, Blätter, ein Getränkekasten, ein kaputter Fußball …
… und der Körper des toten Pflegers Uli Pawlowsky.
»Die neue Pflegerin ist ein Schatz«, jubelte Lütgenjohann. »Die hat wirklich die zartesten Finger im ganzen Haus!«
»Du sagst doch immer, die hätte ich«, protestierte Henny Sesterheim lachend. Der Flachmann ging herum, sie waren in ausgesprochen gelöster Stimmung.
Gundel Sudhoff rückte währenddessen gänzlich versunken das Foto ihres jüngsten Sohnes zurecht.
»Das hätte ich ihm nicht zugetraut«, sagte Ascheberg, der an ihre Seite getreten war, anerkennend. »Nach so viel Mumm sah der Bursche eigentlich gar nicht aus.«
»Tja, das ist eben mein Sohn«, sagte Gundel stolz. »Meine Jungs waren da noch nie zimperlich.« Sie wies auf die Reihe der Fotografien.
»Prost!« Lütgenjohann hob den Flachmann. »Auf den Mann, der uns von dieser Pest namens Pawlowsky befreit hat!«
»Prost!«, riefen Henny Sesterheim und Gustav Lütgenjohann im Chor.
Gundel schürzte die Lippen. Die Wahrheit würde für immer in ihrem Herzen verborgen sein. Alles war gut so, wie es jetzt war.
Hajo hatte sich eine Blaseninfektion samt Nierenbeckenentzündung zugezogen und würde auf unbestimmte Zeit im Justizvollzugskrankenhaus bleiben. Es tat gut, ihn in ihrer Nähe zu haben.
Und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr gelangte sie zu der Überzeugung, dass ihr Jüngster doch noch das Zeug zu einem echten Killer gehabt hätte. Wahrscheinlich hätte er den Pawlowsky genauso eiskalt weggehauen wie sie … wenn sie ihn darum gebeten hätte. Ja, dachte Gundel, ganz bestimmt. Für seine Mutti hätte er das getan!
Ein Kind, erwachsen, groß geworden, steht selbst im Leben für sich ein. Doch Mutter macht sich immer Sorgen. Ihr Kind bleibt ewig für sie klein.
(Die verwendeten Muttertagsgedichte wurden von einem unbekannten Poeten verfasst.)
Fronleichnam
Fronleichnam, das ›Hochfest des Leibes und Blutes Christi‹, ist eines der wichtigsten Feste im katholischen Kirchenjahr und wird am zweiten Donnerstag nach Pfingsten gefeiert. Der wichtigste Teil des Fronleichnamsfestes ist die Heilige Messe, an die sich die Fronleichnamsprozession anschließt, bei der die Gläubigen die von einem Geistlichen getragene Monstranz begleiten. Die Prozession im Ort Stromberg nahe des Kulturguts Nottbeck wird in der Story von Alex- andra Kui zum Schauplatz eines dramatischen Mutter-Tochter-Konflikts.
Alexandra Kui
Nottbecker Nocturne
Sie ist überrascht, wie vertraut alles ist. Siebzehn Jahre seit dem Abi, eine lange Zeit. Elin hat hart am Vergessen gearbeitet, viel von der Welt gesehen, ihr Gedächtnis ist reich bestückt mit eindrucksvollen Bildern aus Indien und Manhattan und natürlich Barcelona, wo sie zwei Jahre gelebt hat, sodass eigentlich kein Platz mehr sein dürfte für Oelde, Münsterland. Und doch hat im Geheimen etwas überdauert – ein Gefühl, eine Erinnerung, ein Geschmack? –, etwas, das ihr Herz beim Anblick der Beckumer Berge in einen Taumel versetzt.
Die Birken. Ihr frisches, kühles Grün, das Silberweiß der Stämme. Birken waren immer ihre allerliebsten Bäume, Elin war nicht bewusst, wie viele davon es in der Gegend gibt. Sie ist fast da. Ihre Rückkehr – eine Kapitulation. Siebzehn Jahre – ein Witz, wenn man bedenkt, welches Versprechen sie sich bei ihrem Abschied selbst gegeben hat: nie
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