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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grafit
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in der Handschrift seiner Mutter:
    Morgen früh, halb elf, Wasserkraftwerk. Da geht’s weiter, mein Junge.
    Eine Welle der Rührung überrollte ihn. Sie hatte ihm die Flucht ermöglicht und jetzt würde sie ihm den weiteren Weg ebnen. Womöglich schaffte sie ihn sogar ins Ausland. Seine Mutter! Sie meinte es so gut mit ihm. Ihre Liebe war so groß, und das, obwohl er früher oft das Gefühl gehabt hatte, eine große Enttäuschung für sie zu sein.
    Irgendwann übermannte ihn die Müdigkeit und begleitet vom dumpfen Pochen in seinem langsam, aber deutlich anschwellenden Zeh, schlief er irgendwann ein – mit einem Lächeln auf den Lippen, ausgelöst vom Gedanken an seine liebe Mutter.
    Der Fahrer trommelte nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, während die Senioren sich in den Bus quälten. Anlässlich des Muttertages hatte man für diejenigen, die keinen Besuch von den Kindern oder Enkeln zu erwarten hatten, einen kleinen Ausflug organisiert. Zuerst bei den wilden Heckrindern vorbeischauen und dann weiter zur Hofkäserei Wellie in Warmen.
    Als die Betreuerin die Namen von der Teilnehmerliste aufrief, räusperte sich Henny Sesterheim kurz und ahmte dann die Stimme ihrer Freundin Gundel nach: »Hier!«
    Ascheberg und Lütgenjohann nickten ihr lobend zu. Das Lächeln der drei Alten war nervös. Ihr mörderischer Plan ging in die Endphase.
    Gundel Sudhoff hatte an diesem Morgen etwas Besseres zu tun, als Kühe und Käse zu bestaunen. Nachdem der Bus abgefahren war, kam sie hinter der Ecke von Haus Schmallenbach hervor, hinter der sie sich versteckt hatte. Sie schluckte, ihr Mund war trocken. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
    Als sie wenig später die Ruhr überquerte, schimmerten die Strahlen der Muttertagsmorgensonne friedlich auf dem Wasser. Ruhig und beschaulich strömte der Fluss nach Westen und bis auf ein paar Spaziergänger war niemand am Ufer unterwegs.
    Sie brauchte nicht lange bis zum Wasserkraftwerk. Dort angekommen, roch sie Pawlowsky, noch bevor sie ihn sah. Er hatte ein besonders aufdringliches Aftershave aufgetragen, trug seinen grellsten Jogginganzug und war gerade damit beschäftigt, sein Spiegelbild im Ruhrwasser zu betrachten. So also ging einer wie Pawlowsky auf Frauenfang.
    Als er Gundel sah, entgleisten ihm augenblicklich die Gesichtszüge. »Wat is denn getz los?« Er warf seine Kippe zu Boden und trat sie aus. »Wat machs du denn hier? Wieso bistu dennich bei der Käsetour?«
    Gundel näherte sich ihm furchtlos. Jetzt war es fast geschafft.
    »Mach dich ma vom Acker, Omma, ich krich gleich Besuch, un da …« In diesem Augenblick hellte die Erkenntnis seine Miene auf. »Ach so is dat. Verstehe. Kleines Spässken.«
    Mit ihrem Angriff hatte er nicht gerechnet. Mit ihrer Behändigkeit erst recht nicht. Der silberne Knauf ihrer Krücke sauste durch die Luft und traf mit elementarer Wucht auf seine Schläfe. Es knackte laut durch die Muttertagsmorgenluft und Pawlowskys großer Körper geriet ins Wanken. Seine Augen weiteten sich und seine Lippen bewegten sich stumm. Sie setzte nach und der zweite Schlag traf ihn mitten auf die Stirn. Auch der wurde von einem grässlichen Geräusch begleitet.
    Dann verlor Pawlowsky zuerst das Gleichgewicht, dann den Halt und kippte schließlich mit einem Röcheln rücklings ins Wasser.
    War er zu spät? Nein, es war genau halb elf. So wie es auf dem Zettel stand. Hajo hielt seine Uhr ans Ohr. War sie etwa auf dem modrigen Sofa feucht geworden? Nein, alles korrekt. Gott sei Dank.
    Muttertag! Und er würde sie wiedersehen! Er hatte auf dem Weg hierher extra ein paar Osterglocken aus einem der Vorgärten geklaut. Unter großen Schmerzen – aber für seine liebe Mutter nahm er das in Kauf.
    Bloß war von ihr nichts zu sehen. War er etwa auf der falschen Seite des Kraftwerks? Jeder Schritt tat ihm weh und alle paar Minuten musste er ohnehin Gürtel und Reißverschluss öffnen, damit die Sache in der Hose nicht eskalierte. Das zu enge T-Shirt schnitt ihm in den Nacken. Außerdem hatte Hajo schlecht geschlafen, nicht gefrühstückt und jetzt musste er auch noch fortwährend niesen. Pollenflug. Bei den Haselnusssträuchern am Gartenhäuschen war’s sofort losgegangen.
    Keine Spur von seiner Mutter, so sehr er auch suchte.
    Plötzlich klingelte es hinter ihm. Eine Fahrradschelle.
    Hajo fuhr herum und starrte mit weit offenem Mund dem heranradelnden Polizisten entgegen, der geradewegs auf ihn zuhielt.
    Ein Polizist!
    Sie hatten ihn gefunden! Hajo brachte nicht mehr

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