Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
wieder.
Elins Freude, wenn es denn Freude war, verfliegt noch schneller, als sie gekommen ist. Sie schaltet das Autoradio ab, das seit einer geraumen Weile nur noch vor sich hinrauscht. Das Radio ist alt, genau wie der Wagen. Es ist zu spät, um nach einem Sender zu suchen, sie muss an der nächsten Abfahrt raus. Doch gerade im Schatten dieser Erkenntnis wird ihr Bedürfnis, Musik zu hören, übermächtig, Pop, Rock oder Klassik, egal, Hauptsache ohrenbetäubend. Sie könnte alles noch einmal überdenken, auf der A 2 weiterfahren bis Hannover oder Berlin. Das Radio müsste bloß laut genug sein, um ihre Angst zu übertönen. Vielleicht könnte sie doch einen Neuanfang wagen. In einer anderen Stadt unter einem falschen Namen.
Als ihre Entscheidung gefallen ist, entdeckt Elin, die Hand bereits zum Radio ausgestreckt, den Volvo im Rückspiegel. Worauf die Hand sich wie ferngesteuert zur Faust ballt und auf das Lenkrad niedersaust, einmal, zweimal, dreimal, viermal.
Kein Zweifel, sie ist es, die Stalkerin. Muss es sein. Volvos dieser Baureihe sind selten, in Weiß fast schon eine Rarität. Auch wenn Elin die Begegnung herausgefordert hat, oder besser: herausfordern wollte, indem sie diese Reise antrat, lässt das Erscheinen dieser Frau, die ein Opfer aus ihr gemacht hat, sie von einer erschreckend hohen Klippe stürzen. Was dann kommt, kennt sie bereits: freier Fall.
Elin verliert die Kontrolle, sie verreißt das Lenkrad, verwechselt Kupplung und Bremse, der Wagen gerät ins Schlingern. Einzig und allein der Umstand, dass genau zur rechten Zeit die Ausfahrt Herzebrock-Clarholz am Fahrbahnrand auftaucht, verhindert das Schlimmste.
Während sie also – gegen ihren Willen – regelrecht heimwärts geschleudert wird, rauscht der Volvo mit unverminderter Geschwindigkeit auf der Autobahn weiter geradeaus. Elin bleibt keine Chance, die Fahrerin zu erkennen, sie muss ihren gesamten Willen aufbieten, um sich zu fangen. Wie oft wird sie diese Art Sturz noch überleben?
Autohof Rheda-Wiedenbrück, später. Zittrig, aber erleichtert, versucht Elin, zu Kräften zu kommen. Eine Tankstelle nebst Shop und ein Restaurant im postmodernen Loft-Design werben um die Gunst der Durchreisenden. Alles wirkt nagelneu, besonders der Parkplatz mit seinem makellosen Pflaster, keine Ölflecken, kein Unkraut, keine Unebenheiten. Zu ihrer Zeit gab es hier nichts als Ackerland. Wie Sturmsegel trotzen die blauen Flaggen des Mineralölkonzerns dem Sog der vorbeibrausenden Lastwagen, ihr Geflatter hat etwas Militärisches.
Elin kommt der Gedanke, dass dieser Ort mit seiner fast sterilen Aufgeräumtheit ideal sein könnte, um die Stalkerin zu treffen. Auf diesem neutralen Boden kann sie den Trumpf ihrer gemeinsamen Vergangenheit nicht ausspielen. Rührseligkeiten gehören nicht auf einen Autohof, rührselig wird man woanders. Unter Birken zum Beispiel. Die sollte sie meiden.
Auf ihrem Erkundungsrundgang durch die Gaststätte beschließt Elin, in der Kaffee-Lounge einen grünen Tee zu trinken. Obwohl überall in dem weitläufigen Raum noch freie Plätze zu haben sind – wegen des schönen Wetters nutzen die meisten Gäste den Biergarten –, bleibt sie nicht lange allein.
Kaum hat sie den ersten Schluck getrunken, lässt sich auf dem Barhocker nebenan ausgerechnet ein Polizist nieder, jagt ihr mit seiner Uniform und seinem freundlichen Gruß einen Riesenschreck ein. Ihre Befürchtung, er könne ihr riskantes Fahrmanöver beobachtet haben, erweist sich glücklicherweise als Fehlalarm. Er ist einfach nur ein uniformierter Mann nach Dienstschluss, der anscheinend noch nicht nach Hause will, wo vielleicht niemand auf ihn wartet.
»Auf der Durchreise?«, fragt er, ein ungelenkes Lächeln auf den Lippen.
Elin nickt.
»Woher kommen Sie denn?«
»Aus Hamburg. Und Sie?
»Hier aus der Gegend. Stromberg, um genau zu sein. Aber das ist Ihnen sicher kein Begriff.«
Schweigen. Elin ist in Stromberg aufgewachsen. Sie betrachtet den Polizisten genauer, ein mittelblonder, ungewöhnlich offenherziger Westfale mit leicht gedrungener Statur und zurückweichendem Haaransatz. Er dürfte mindestens fünf Jahre älter sein als sie.
»Ich wurde in St. Lamberti getauft«, sagt sie, ohne es zu wollen.
»Ach wirklich? Was Sie nicht sagen! Ich auch. Dann sind Sie also von hier. Willkommen daheim!«
Der Polizist hat irgendetwas an sich, das in Elin den Wunsch weckt, ihm von der Stalkerin zu erzählen. Vermutlich verspürt sie diesen Wunsch insgeheim schon lange, zu
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