Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
»Heute ist doch Feiertag. Da besucht er seine Mutter im Altersheim.«
»Was für ein netter Sohn«, sagt Elin voller Sarkasmus.
Eva findet es wirklich sehr nett, sich seiner dementen Mutter zu widmen, auch wenn diese nicht mehr viel davon mitbekommt. Er ist kein schlechter Mann. Auf einmal beschleicht Eva der Verdacht, Elin könnte die weite Fahrt nur deshalb auf sich genommen haben, um sie vom Gegenteil zu überzeugen.
»Falls du über damals reden willst …«
Elin fällt ihr ins Wort. »Will ich nicht.«
»Sondern?«
»Ich will, dass wir die Angelegenheit endlich zu Ende bringen.«
Aus alter Gewohnheit will Eva widersprechen, setzt bereits zu einer Antwort an, als ihr klar wird, wie sehnlich sie sich genau dasselbe wünscht: ein Ende. Ganz gleich welcher Art.
Wie es der naturgegebenen Hierarchie zwischen Mutter und Tochter entspricht, beschließt sie, das Heft in die Hand zu nehmen.
»Lass uns von hier verschwinden, Elin.«
Haus Nottbeck. Elin staunt. Aus der verwunschenen Anlage, einst Rittersitz, dann Landgut und zuletzt im Dornröschenschlaf versunken, ist eine luxussanierte Kulturstätte geworden; die baulichen und atmosphärischen Veränderungen sind so umfassend, dass ihr angesichts des Verlusts ein Schauer über den Rücken läuft. Ob ihre Mutter weiß, wie sehr sie diesen Ort als Mädchen geliebt hat? Oder wollte sie nur hierher, weil Nottbeck nicht weit von der Autobahn entfernt ist – kaum hundert Meter Luftlinie sind es von hier bis zum Rasthof – und weil im Innenhof gerade ein Open-Air-Lyrikfestival gefeiert wird?
»Da staunst du, was?«, fragt ihre Mutter voller Stolz, als ginge das ganze Tamtam auf ihr Konto. »Hier hat sich viel getan.«
»Kann man wohl sagen«, erwidert Elin, außerstande, Gegenwart und Vergangenheit miteinander in Einklang zu bringen. Einst kam sie hierher, wenn sie es zu Hause nicht mehr aushielt. Mit Blick auf das lachsrote Herrenhaus, durch die rechtwinklig angelegten Wirtschaftsgebäude vom Rest der Welt abgeschirmt, liebte sie es, im ungemähten Gras zu sitzen, zu lesen, zu träumen und darauf zu warten, dass die Tage ihrer Kindheit endlich zu Ende gingen.
Damals hatte sie das Anwesen oft ganz für sich allein, lediglich der freundliche Geist der letzten Gutsherrin, die bis zu ihrem Tod frei und ungebunden dort ausgeharrt hatte, schien noch durch den Innenhof zu spuken, spielte ab und zu mit den Zeigern der Fassadenuhr und wachte über Elins Schlaf, wenn sie es ausnahmsweise wagte, im baufälligen Torhaus eine Nacht zu verbringen. Zu Lebzeiten soll die feine Dame gern mit ihrem Benz umhergebraust sein, aufgedonnert wie ein Filmstar, mit wechselnden Liebhabern an ihrer Seite.
So eine Mutter hätte Elin sich gewünscht und nicht die Frau, die für jemanden wie Plöger nicht nur sich selbst verrät, sondern auch ihr Kind. Alles bloß, um endlich wieder verheiratet zu sein – und es vor allem auch zu bleiben.
»Tja, Elin, was meinst du?«, durchsiebt Eva Plögers Stimme ihre Gedanken. »Sollen wir uns unter das Volk mischen?«
»Warum nicht?«
Das Volk besteht aus überwiegend fröhlich gestimmten, meist jungen Leuten. In allen Winkeln des weitläufigen Parks tragen Nachwuchsdichter ihre Werke vor, manche mit musikalischer Begleitung, andere allein. Einer von ihnen rezitiert seine Verse auf einem Ruderboot in der freigebaggerten Außengräfte, die den Gebäudekomplex jetzt wie ein Burggraben vollständig umschließt.
»Also mir gefällt es hier«, sagt Elins Mutter.
Elin pflichtet ihr bei. Sie lehnt am sonnenwarmen Backstein des einstigen Stallgebäudes, trinkt Emsgold – Brause aus der Flasche und denkt, dass die Mauer in ihrem Rücken sich genau wie früher anfühlt. Vielleicht ist doch nicht alles verloren. Auch, was ihre Mutter angeht. Nie zuvor war die Verlockung, den einfacheren Weg einzuschlagen, dem inneren und äußeren Druck nachzugeben, so groß wie in diesem Augenblick, an diesem Ort.
Wäre es wirklich unzumutbar, sich gelegentlich zu sehen? Hier oder in Hamburg? Nur um des lieben Friedens willen. Und natürlich ohne Plöger.
Je länger Elin diesen Fragen nachhängt, desto sicherer scheint sich ihre Mutter zu fühlen. Schließlich wagt sie einen Vorstoß. »Weißt du eigentlich, was heute für ein Tag ist?«
Elin schüttelt den Kopf.
»Fronleichnam. Ich finde es natürlich ein bisschen schade, dass ich die Prozession verpasse. Du hast nicht zufällig Lust? Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch.«
»Du willst mich der Gemeinde
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