Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
lange, um jetzt noch wählerisch zu sein, der Erstbeste genügt zum Reden, ob er will oder nicht.
»Ich werde verfolgt«, beginnt sie. »Und zwar systematisch, falls Sie verstehen, was ich meine.«
Der Polizist versteht. Und hakt nach. Nachdem Elin ihm ihre Geschichte erzählt hat, stellt er eine naheliegende Frage, es ist die richtige und die falsche zugleich: »Sie kennen die Frau, die Ihnen nachstellt?«
Elin nickt.
»Und wer ist sie?«
»Meine Mutter.«
Eine unheilvolle Pause entsteht. »Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass sie sich von Ihrer eigenen Mutter verfolgt fühlen!«
»Warum nicht? Sie hat meine Freunde gegen mich aufgehetzt. Ihretwegen ist meine Beziehung in die Brüche gegangen. Sie lässt mich einfach nicht in Ruhe.«
»Ja, aber sie kann Sie gar nicht in Ruhe lassen. Sie ist Ihre Mutter! «
Genau das hat Elins Freund auch gesagt, mit exakt demselben Unterton. Unmissverständlich ein Vorwurf, gepaart mit leisem Zweifel an ihrer Zurechnungsfähigkeit. Wer die eigene Mutter abweist, setzt sich ins Unrecht. Als würde allein dieses Wort (für Elin ohne jede Bedeutung seit mehr als siebzehn Jahren) jede Frau zu einer Heiligen machen, einer direkten Nachfolgerin der Jungfrau Maria. Heilige Muttergottes. Vergebung höchste Tochterpflicht.
»Wollen Sie etwa Ihre eigene Mutter anzeigen?« Der Polizist hat sich aufrechter hingesetzt, ist plötzlich wieder im Dienst, ungeachtet der Kuchenkrümel, die in seinem Mundwinkel kleben.
»Ich erstatte keine Anzeige, ich habe Ihnen ganz privat etwas von mir erzählt, weil Sie so neugierig waren und ich so allein. Ich weiß, dass es nicht strafbar ist, Geschenke zu schicken, Briefe zu schreiben oder unaufgefordert in meinem Laden aufzukreuzen.«
»Warum sprechen Sie sich nicht einfach aus? Mit Ihrer Mutter?«
Elin überlegt. »Ihr geht es nicht um eine Aussprache. Eigentlich hat sie etwas völlig anderes im Sinn.«
»Und was bitte soll das sein?«
»Sie will mich umbringen. Sie weiß es nur nicht.«
Zur Feier des Tages trägt Eva Make-up auf, Wimperntusche und gefährlich roten Lippenstift, den sie sogleich wieder abwischt und durch dezenteren Gloss ersetzt. Elin soll keinen falschen Eindruck von ihr bekommen. Es ist ihre erste richtige Verabredung mit ihrer Tochter seit siebzehn Jahren, genau genommen die erste Verabredung überhaupt, denn als sie noch zu Hause gewohnt hat, waren Verabredungen natürlich nicht nötig, und die erwachsene, selbstständige Elin verweigert bisher jeden Kontakt. Was nicht bedeutet, dass Eva sich nicht bemüht hätte.
Zumal sie nicht im Mindesten begreift, woher Elins Ablehnung rührt. Sicher, zuletzt hat es viel Streit gegeben, vor allem zwischen Elin und ihrem Stiefvater, aber rechtfertigt das gleich die völlige Verleugnung der eigenen Mutter? Wohl kaum. Genau deshalb hat sich Eva mit der ständigen Zurückweisung durch Elin nie abfinden können, die Reaktion war in ihren Augen völlig unverhältnismäßig. Offensichtlich hat Elin das endlich eingesehen. Sonst hätte sie Eva wohl kaum um dieses Treffen heute gebeten.
Ausgerechnet an diesem Tag! Sie wird die Prozession versäumen. Obwohl: Wenn alles gut verläuft, können sie womöglich anschließend gemeinsam hingehen. Dann würden sie unweigerlich zusammen gesehen werden. Eine Genugtuung.
Als Eva vor dem Rasthof einparkt, hat sie sich den schönen Lippgloss vor Aufregung bereits vollständig von den Lippen geleckt, das entdeckt sie im Rückspiegel. Es ist eine ihrer vielen schlechten Angewohnheiten, ständig auf der Unterlippe zu kauen, besonders wenn sie aufgeregt ist.
Mit zittrigen Fingern schminkt sie nach, dann steigt sie aus, verschließt den Volvo und überquert den Parkplatz. Elin wartet im Restaurant. Sie sitzt am Fenster und hat Eva wahrscheinlich schon länger im Blick.
Nachdem sie Evas Umarmung mit einer harschen Geste abgewehrt hat, lautet ihre erste Bemerkung nach all der Zeit: »Du hast Lippenstift im Mundwinkel.«
Ist es da ein Wunder, dass Eva in Tränen ausbricht? Und ist es nicht ein Zeichen ihrer emotionalen Verkorkstheit, dass Elin in keiner Weise darauf reagiert, sondern sich einfach nur wieder hinsetzt, einen arroganten Zug um den Mund, wie sie ihn als kleines Kind schon parat hatte? Sogar die Kellnerin, die sich respektvoll im Hintergrund hält, strahlt mehr Mitgefühl aus.
»Wo ist Plöger?«, fragt Elin als Nächstes. Seit der Pubertät nennt sie ihren Stiefvater beim Nachnamen, vorher hatte sie immer Papa zu ihm gesagt.
Eva schnieft.
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