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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grafit
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heulte nicht, weil man ja damit den Feind nur stärker macht. Leider traf Wigbert mit dem Ball auch ein geparktes Auto und Hubert zwei.
    Wir hauten lieber ab und schauten uns in der Eisdiele die Sorten an, damit wir am Sonntag, wenn wir vielleicht Eis kriegten, nicht lange aussuchen mussten. Wir warfen noch ein paar Steine auf Tauben, aber das war langweilig, weil wir keine erwischten. Dann fragten Wigbert, Hubert und Bernhard mich, wo ich meine Seppelhose gelassen habe und ob ich jodeln könne. Ich überlegte, ob ich eines von Opa Rudis Durchhalteliedern singen sollte, entschied mich aber lieber für den Zwiefachen, den mein Vater sang, wenn er meine Mutter ärgern wollte. Wigbert und Hubert mussten sehr über Unsa oide Kath braucht a no oan lachen. Bernhard presste die Lippen zusammen, weil er Asthma hatte und beim Lachen schon mal fast erstickt war. »Aber nur, weil er sich nicht richtig zu lachen getraut hat«, sagte Wigbert, »so kurz nach der Geschichte mit seiner Mutter.« Bernhard begann, nervös an seinen Fingernägeln zu kauen, und ich fragte lieber nicht, was das denn für eine Geschichte war.
    So wurden wir Freunde. Wir bauten uns im Garten der Dechanei ein Zelt aus Bohnenstangen und Decken, rauchten Heu und klauten bei der Brennerei Moormann alte Flaschen, in denen noch Reste vom Korn waren. Die füllten wir mit Bluna auf. Das war mein erster Cocktail. Danach kugelten wir über den Kirchhof und spielten besoffen. Na ja, richtig spielen mussten wir eigentlich nicht. In Werne war man eigentlich immer ein bisschen beschwipst, weil die ganze Stadt nach dem Schnaps vom Moormann roch.
    Einmal, als es abends Wirsingrouladen mit Kartoffelbrei gab, wollte Onkel Peter, dass ich das Tischgebet spreche. Ich sagte: »An guadn.« Das gefiel ihm nicht. Was wir denn zu Hause vor dem Essen beteten? Ich sagte: »Unsa oade Kath«, weil das Lied bei meinen neuen Freunden so gut angekommen war. Das gefiel ihm noch weniger. »Fräulein Paschke, der Junge isst heute auf seinem Zimmer.«
    Aber das war das einzige Mal, dass Onkel Peter mich bestrafte. Wenn sich einer über Gebete lustig machte, verstand er als Dechant nämlich keinen Spaß. Sonst interessierte ihn die Kindererziehung nicht besonders. Dafür war Tante Erika zuständig. Und die hatte ein großes Herz. Sie schimpfte nicht, wenn ich mir beim Baumklettern die Hosen zerriss oder wenn ich mit Wigbert, Hubert und Bernhard sonntags nach dem Gottesdienst zum Schützenfest am Hagen schlich und hinterher in den Pflanztrog vor der Dechanei kotzte. Tante Erika drückte sogar ein Auge zu, wenn ich das Nachbarmädchen Hildegard in mein Deckenzelt zum Kuscheln einlud. Ich musste auch nur sonntags in die Kirche gehen, nicht jeden Tag in die Frühmesse, wie mein Vater es mir angedroht hatte. Das war gut, denn ich mochte den Gottesdienst in Werne überhaupt nicht. Die verbrannten viel weniger Weihrauch als zu Hause, sodass einem gar nicht richtig schwindlig wurde. Onkel Peter schrie auch nicht bei der Predigt wie unser Pfarrer, er bekam nicht mal einen roten Kopf. Außerdem gab es in der Kirche keine richtige Männer- und Weiberseite mehr. Alles löste sich auf und es konnte passieren, dass ich, wenn ich zu den Mädchen rüberlinste, einem Kerl mit schwarzem Bart in die Augen blickte, der nach der Blondine neben mir Ausschau hielt. Das war doch kein Gottesdienst mehr.
    Opa Rudi hatte nach seiner Flucht aus russischer Gefangenschaft auf dem über fünf Jahre langen Marsch mit seinem Klumpfuß vom Dnjepr bis zur Isar auch einen Kameraden aus Werne kennengelernt, der ihm seine Heimatstadt offenbar in sehr düsteren Farben geschildert hatte. Man muss zäh sein, um in Werne zu überleben – das war der Leitspruch, den er mir auf meine Reise mitgegeben hatte. Kein Wunder, dass ich anfangs kaum glauben konnte, wie viel Freiheit ich in Werne genoss. Tante Erika wusste wahrscheinlich nicht, was man zehnjährigen Buben erlauben darf und was nicht. Sie fand es normal, dass ich mit ihrem Fahrrad stundenlange Ausflüge machte. Sie gab mir nur ein paar Groschen (wie sie die Zehnerl nannte) zum Telefonieren mit, falls ich mich verirrte. Ich verirrte mich immer im riesigen Cappenberger Wald, aber ich fragte mich dann durch und kaufte für die Groschen Silberlinge und Salmiakpastillen am Kiosk neben dem Kirchhof.
    Mein größtes Abenteuer aber erlebte ich mit Hildegard. Sie nahm mich mit ins Solebad und ich durfte ihren Rücken mit Tiroler Nussöl einreiben. Ich verstand zwar nicht, wofür sie das

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