Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
geschmeckt wie dieser hier.«
»Red nicht so einen Unsinn, Elin.«
»Das ist kein Unsinn. Manchmal konnte ich nicht schlafen, dann hast du mir welchen zu trinken gegeben. Ich schwöre, es war genau dieser Wein.«
»Elin!«
Ein Stück entfernt im Innenhof spielt jetzt eine Jazzband. Sie sitzen abseits an der Gräfte auf einer Bank, nah beieinander, die Ähnlichkeit zwischen ihnen unübersehbar. Zwei Menschen, die zusammengehören? Schöner Schein.
»Einmal wolltest du sogar, dass ich irgendwelche Pillen schlucke. Aber ich habe mich gewehrt. Das musst du doch noch wissen.«
»Hör auf damit!«
Je vehementer ihre Mutter versucht, sie zum Schweigen zu bringen, desto klarer sieht Elin die Szenerie vor sich. Die zugige Mietswohnung, in der sie nach der Scheidung lebten, den Wein, die Tabletten, das zornige und leicht entrückte Gesicht ihrer Mutter, ähnlich wie jetzt, bloß dreißig Jahre jünger. Ihr säuerlicher Atem.
»Du wolltest nicht, dass ich einschlafe, oder? Du wolltest mich ganz und gar loswerden! Und zwar, um deine Chancen auf dem Heiratsmarkt zu erhöhen. Daher die Wallfahrt, weil du dein eigenes Kind fast getötet hättest. Aus diesem Grund musstest du ein besserer Mensch werden. Aber das hat nicht funktioniert, glaub mir. Du bist immer noch genau dieselbe …«
Elin möchte noch viel mehr sagen, doch plötzlich fehlt ihr zum Reden die Kraft, bald darauf fällt auch das Atmen merkwürdig schwer. Was ihr die Kehle zuschnürt, ist keineswegs die Erschütterung, wie sie zu spät begreift, es sind Hände, die sich genau wie ihre eigenen anfühlen. Anders als das Kind von früher, ist Elin heute bereit, ihr Schicksal anzunehmen.
Im nächsten Sommer findet die Wallfahrt von Stromberg ohne Eva Plöger statt. Ein Antrag ihres Anwalts auf Hafturlaub wurde vom Gericht nicht bewilligt. Stattdessen mischt sich ein Autobahnpolizist unter die Gläubigen, sonst kein Kirchgänger. Er will eine Kerze für Elin anzünden. Seine Mutter hat ihn dazu ermutigt.
Mariä Himmelfahrt
Mariä Himmelfahrt wird in der römisch-katholischen Kirche am 15. August gefeiert: Die Gläubigen begehen die Aufnahme Marias in den Himmel. Da Maria als Mutter Jesu von der Erbsünde befreit war, bedurfte sie beim Über gang ins ewige Leben keiner Läuterung mehr. An diesem Tag werden nach katholischem Brauchtum in der Kirche Kräuter geweiht, und besonders im süddeutschen Raum finden nach den abendlichen Pontifikalämtern Lichter- prozessionen statt. Aus Bayern stammt auch Peter Probst, in dessen Story der Festtag allerdings im katholischen Werne begangen wird.
Peter Probst
Das Wunder von Werne
Ich habe meinen Bruder Erwin nie gern gequält, ich wollte ihn nur widerstandsfähiger machen. Weil doch klar war, dass bald wieder härtere Zeiten kommen – und der Russe. Erwin war noch klein, erst acht, und verstand den Sinn von Übungen wie der Brennnessel nicht. Er plärrte sofort los, wenn ich bei ihm die Haut am Unterarm gegeneinander verdrehte, und hörte nicht auf, bis meine Eltern angelaufen kamen. Sie bestraften mich meistens mit Stubenarrest, weil gutes Zureden bei mir nicht mehr half und auch nicht Ohne-Abendessen-ins-Bett-schicken. Wenn ich dann in mein Zimmer gesperrt wurde, las ich die Landser – Hefte, die ich unter meinem Bett versteckte. Mein Nennopa Rudi hatte sie mir geschenkt. Heimlich, weil mein Vater immer so schlecht über den Krieg sprach und ich doch mal ein paar ehrliche Berichte über unsere glorreiche Wehrmacht lesen sollte. Opa Rudi mit dem Klumpfuß hatte mir auch die Brennnessel beigebracht, die Schindel, die Nuss und den Spitz, vor allem aber, dass man, auch wenn’s noch so wehtut, immer die Zähne zusammenbeißen muss. Er selbst hatte das begriffen, als der Russe ihm mit einem Panzer den Fuß zerquetschte: Heulen macht den Feind nur stärker.
Meine Mutter schickte mich immer mit ein paar Fläschchen Underberg zu Opa Rudi, weil der doch so Schreckliches durchgemacht hatte. An meinem zehnten Geburtstag war ich alt genug, um auch mal probieren zu dürfen. Ich leerte sieben Fläschchen, während Opa Rudi erzählte, wie er sich am Dnjepr-Fluss mit einem einzigen wuchtigen Kopfstoß aus russischer Kriegsgefangenschaft befreit hatte. Eine halbe Stunde später blutete mein Bruder heftig aus der Nase und mir war schlecht – nicht wegen dem vielen Blut, sondern wegen dem Underberg. Mein Vater wollte wissen, weshalb ich Erwin einen Russen genannt und so schwer misshandelt hatte. Er versohlte mich sogar, um es
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