Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
Nussöl brauchte, wo einen doch schon das Wasser des Solebads braun einfärbte, aber egal. Hildegard hatte zwar noch keinen richtigen Busen, aber schon einen echten Bikini. In Rot! Wigbert und Hubert gingen nicht gern ins Wasser, sie quälten lieber Katzen. Ihr Vater war Metzger und sie waren der Meinung, dass Tiere, die man nicht essen kann, nichts wert sind. Nur Bernhard, der keine Mutter mehr hatte, aber einen Vater, der Steiger war, band nie einer Katze eine Blechdose an den Schwanz.
Ich konnte mich nicht erinnern, je so glücklich gewesen zu sein wie in Werne. Meine Familie in München vergaß ich komplett – bis Onkel Peter mir nach zwei Wochen den Telefonhörer reichte. Es war damals so üblich, dass Kinder, die man für länger in die Fremde schickte, alle vierzehn Tage einen Anruf bekamen. Mein Vater fragte, ob ich meine Lektion denn nun gelernt habe. Er wollte mich zerknirscht und reuig hören, aber ich erklärte, zwei Wochen Werne reichten leider nicht, um aus mir einen braven Buben zu machen. Ich müsse auf jeden Fall noch bis zum Ende der Ferien bleiben. »Du fühlst dich doch sicher manchmal ein bisschen allein?«
»Nein, gar nicht, ich habe ja Wigbert, Hubert und Bernhard.« Da kam meine Mutter an den Apparat und erklärte mir, dass Erwin solche Sehnsucht nach mir habe, dass sie ihn jetzt auch nach Werne schicken würden.
Wie in meiner ersten Nacht in der Fremde konnte ich danach nicht schlafen. Ich zählte die Sekunden und sah auch die schwarze Todeswolke wieder. »Bitte, lieber Gott«, betete ich, »lass meinen kleinen Bruder Erwin zu früh aus dem Zug steigen oder am besten gleich irgendwo rausfallen. Egal, wie du es machst, er darf nie in Dortmund ankommen.«
Der liebe Gott erhörte mein Gebet und Erwin kam nie in Dortmund an – aber nur, weil er noch zu klein für eine Bahnreise war und nach Düsseldorf fliegen durfte. Da holte ihn Onkel Peter mit seinem Käfer ab. In der alten Dechanei musste ich mein Zimmer räumen, denn Tante Erika meinte, Erwin sei im ersten Stock besser aufgehoben. Ich bekam die Kammer im Parterre und blickte wieder wie zu Hause auf eine Mauer, allerdings auf Backstein, nicht auf Eternit. Ich hasste meinen Bruder, sein Geplärr und seine Sturheit. Am meisten aber hasste ich ihn dafür, dass ich immer alles Schöne mit ihm teilen musste. Erst hatte er sich diebisch über meine Verschickung gefreut. Als er aber hörte, wie gut es mir in Werne ging, wollte er unbedingt auch dabei sein. Das war typisch.
Dann kam Mariä Himmelfahrt, mein Lieblingsfeiertag. Er beschäftigte meine Fantasie, seit ein Russe in den Weltraum geschossen worden war. Bald sollten ja sogar Menschen auf dem Mond landen und ich fragte mich, ob das schon der Himmel war, in den Maria aufgestiegen war, oder ob sie noch weiter geflogen war. Tante Erika wollte natürlich, dass wir Onkel Peters Gottesdienst besuchten, aber ich bekam rechtzeitig Bauchweh und Erwin erklärte, er müsse mich unbedingt pflegen. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft waren wir allein.
»Wir könnten Fußball spielen«, sagte ich, »du bist der Maier Sepp.« Aber er hatte Angst vor dem Abschießen. Erwin wollte auch keine Cocktails trinken und Katzen quälen fand er blöd. Was passte dem kleinen Scheißer denn überhaupt? Wieso war er nicht in der Kirche, wenn er zu nichts Lust hatte? Wieso musste er immer mir auf die Nerven gehen? Ich schrie ihn an, aber er hielt sich einfach die Ohren zu und grinste blöd. Da sah ich die Wolke zum dritten Mal. Sie hing wie ein schwarzer Vogelflügel direkt über dem Kopf meines Bruders.
Auf einmal wusste ich, was ich zu tun hatte. Ein Mann ist erst dann ein richtiger Mann, wenn er ernst macht, hatte Opa Rudi mal gesagt. Ich packte einen Klappspaten in meinen Rucksack und verließ, ohne mich noch mal umzublicken, den Pfarrhof. Erwin würde mir folgen, da war ich mir sicher. Links die Kohlehalden, rechts die Lippeauen, dazwischen marschierten wir auf der Kamener Straße zur Lippebrücke.
»Nicht weitergehen«, rief Erwin, »dort drüben ist doch feindliches Ausland.«
Ich bog vor der Stahlbrücke nach links ab, aber nicht, weil ich Angst vor Rünthe hatte, sondern eine geeignete Stelle am Fluss suchte. Mein Bruder lief mir brav hinterher und jammerte nur ab und zu: »Nicht so schnell, Hermann.«
Der Trampelpfad führte zwischen Holundersträuchern, umgestürzten Bäumen und hohem Gras hindurch. Ich sang die zweite Strophe von Heia Safari: »Steil über Berg und Klüfte, durch tiefe Urwaldnacht,
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