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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grafit
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rauszukriegen, aber ich verriet Opa Rudi nicht. Da beschloss mein Vater, dass ich die Sommerferien bei seinem Freund Peter in Werne verbringen sollte.
    Für meine erste Zugreise bastelte meine Mutter ein großes Schild, das sie mir um den Hals hängte. Hermann wird am Bahnhof Dortmund abgeholt. Leider war das Schild bereits in München-Pasing unleserlich, weil ich hatte pieseln müssen und damals zu den wenigen bayerischen Buben gehörte, die sich hinterher die Hände wuschen. Ich kam trotzdem gut in Dortmund an und wurde von Onkel Peter und Tante Erika abgeholt. Die beiden waren nicht verheiratet und sprachen merkwürdig höflich miteinander, obwohl sie zusammen in einem Haus wohnten. »Vielleicht setzen Sie sich nach hinten zu dem Jungen, Fräulein Paschke«, sagte Onkel Peter und Tante Erika antwortete: »Jawohl, Herr Dechant.«
    Die Freunde meines Vaters waren grundsätzlich Katholiken. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, sich nie mit einem Protestanten anzufreunden. Er muss öfter welchen begegnet sein, vermutlich sogar sympathischen, denn in der Großstadt München lebten viele von ihnen. Aber mein Vater war da eben sehr eigen. Er wollte auch nichts mit alten Nazis zu tun haben und hatte deswegen nur wenige Freunde. Opa Rudi mit seinen Kriegsgeschichten konnte er nicht ausstehen.
    Als ich aus dem Fenster von Onkel Peters beigem Käfer blickte, hasste ich meinen Bruder, der mir Werne eingebrockt hatte. Wieso war der Depp nicht ausgewichen, als ich zum Kopfstoß ansetzte? Ich hatte ihn doch noch gewarnt. Ahnte er, was mir blühen würde? Rächte er sich mit seinem trotzigen Stillhalten für all die Brennnesseln, Schindeln und Nüsse? War ihm meine Verschickung ins ferne Westfalen eine blutige Nase wert?
    Onkel Peter steuerte den Käfer durch eine Landschaft, die mich ein bisschen an den Nymphenburger Park erinnerte, wo wir immer den Sonntagsspaziergang machen mussten. Aber da waren merkwürdige schwarz-weiße Kühe und merkwürdige ziegelrote Häuser und merkwürdige Menschen, die gar nicht bayerisch aussahen. »Die in Werne sind quasi Polen«, hatte Opa Rudi gesagt, »und Polen quasi Russen.« Kein Wunder, dass ich Angst hatte und mich wie eine der Kopfweiden fühlte, die am Rand der Felder herumstanden, nur mit gesträubten Haaren statt Ästen.
    »Wir sind fast da, Hermann«, sagte Onkel Peter und parkte vor einer Art Wohnwagen mit großem, nach oben geöffnetem Fenster. »Aber jetzt gibt’s erst mal was zu essen!«
    Tante Erika holte uns Bratwurst mit Pommes, weil sie keine Zeit zum Kochen gehabt hatte. Die Wurst war klein geschnitten und die Pommes verschwanden fast komplett unter Ketchup und Mayonnaise. Das war der erste Lichtblick. Offenbar wollte man mich in Werne nicht verhungern lassen.
    Die alte Dechanei war ein dunkelroter Backsteinbau mit großen Fenstern. Die breite Treppe in den ersten Stock knarrte, als würde sie mit einem reden wollen, im Keller liefen Wasserfäden die Wand herunter und in meinem Zimmer hatte der Boden sich so nach einer Seite gesenkt, dass ich mich im Bett festhalten musste, um nicht rauszufallen. Sonst war ich aber zufrieden. Es gab einen Stuhl, einen Schrank und an der Wand einen Kalender mit frommen Sprüchen. Der August-Spruch lautete: Mit Leib und Seele glorreich aufgenommen in den Himmel: Bitte für uns Maria! Und weiter hinten der November-Spruch: Kain, wo ist dein Bruder Abel? Ich weiß es nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?
    Am schönsten war der Blick in den kleinen, verwunschenen Garten. Zu Hause hielten meine Eltern und mein Bruder die oberen Zimmer besetzt. Weil ich schon groß war, musste ich parterre mit Blick auf die Eternitfassade unserer Nachbarn wohnen.
    In meiner ersten Nacht in Werne schlief ich nicht, ich zählte. Alle neunhundert Sekunden zitterte das Fenster und ein klein wenig auch das schiefe Bett, weil die Turmuhr der düsteren St.-Christophorus-Kirche schlug. Dazwischen war es still. Zu still, fand ich. Plötzlich war ich ganz sicher, dass in diesen Ferien noch etwas Schreckliches passieren würde. Ich riss die Augen auf und sah, dass über mir eine dunkle Wolke wie aus Rußflocken oder schwarzen Federn hing. Das muss der Tod sein, dachte ich.
    Am nächsten Morgen lernte ich Wigbert, Hubert und Bernhard kennen. Sie waren älter und größer als ich und wollten mit mir auf dem Kirchhof Fußball spielen. Sie sagten, ich sei der Maier Sepp und müsse ins Tor. Dann schossen sie mich ab. Sie trafen mein Ohr, meinen Bauch und meine Nase. Ich

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