Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grafit
Vom Netzwerk:
wo schwül und feucht die Lüfte und nie die Sonne lacht. Durch Steppengräserwogen sind wir hindurchgezogen mit Trägern und Askari: Heia, heia Safari.« Opa Rudi wäre stolz auf mich gewesen.
    Auf einer kleinen Sandbank, die von Büschen wie von einer Wand umgegeben war, rammte ich den Spaten in den Boden. Erwin fragte aufgeregt, ob ich einen Schatz suche. Ich bemühte mich, ganz lieb zu lächeln. »Wir spielen Stellungskrieg und du darfst deinen eigenen Schützengraben ausheben.« Mein Bruder bockte natürlich wieder. Vielleicht ahnte er schon, was ich mit ihm vorhatte, und wollte gleich losplärren. Aber hier würde ihn kein Mensch hören. Dazu rauschte die Lippe viel zu laut über das nahe Wehr an der Schlagt.
    Ich brach einen Ast ab, um Erwins Größe zu messen, und steckte vier Stöckchen in den Sand, um ein Rechteck zu markieren. Bei Opa Rudi im Gefangenenlager war der Boden gefroren gewesen und die Haut war ihm immer in blutigen Fetzen von den Händen gehangen. Hier an der Lippe war das Graben ein Kinderspiel, nach kaum zehn Minuten stand ich knietief in einer schmalen, langen Grube. »Ich will nicht Stellungskrieg spielen«, schrie Erwin und hielt nach Unterstützung Ausschau. Aber außer einem Fischreiher, der stocksteif im Wasser stand, war kein lebendes Wesen in der Nähe.
    Ich war fast fertig und klopfte nur noch den Boden mit dem Spatenblatt glatt. Da stieß ich auf eine Unebenheit. Sie störte mich, mein Bruder sollte nicht unbequem auf einem Stein liegen. Ich setzte den Spaten an und trat kräftig zu. – Das Geräusch klang wie das Brechen von Knäckebrot, nur lauter. Erwin starrte mit offenem Mund auf das zur Hälfte im Boden versenkte Spatenblatt. »Was ist da?«
    Ich bewegte den Stiel leicht hin und her. Unter dem Sand begann sich etwas abzuzeichnen, das aussah wie ein sehr großes Ei. Ich kniete mich hin, um das Ding mit den Händen freizulegen …
    Das Schrecklichste an dem Totenschädel war nicht das frische Loch in der Stirn, an dem ich schuld war – es waren die leeren Augenhöhlen. Sie starrten mich an und mir schoss durch den Kopf: Kain, wo ist dein Bruder Abel?
    Aber ich war kein Mörder. Das hätte ich doch nie fertiggebracht. Höchstens bis zum Hals hätte ich meinen Bruder eingegraben, damit er sich nicht die Ohren zuhalten konnte. Und dann hätte ich ihm mal alles gesagt, was mir an ihm nicht passte. Hinterher wären wir endlich Freunde geworden. Vielleicht. Die leeren Augen glaubten mir nicht: Kain, wo ist dein Bruder Abel?
    Ich wollte weg, nur noch weg. Erwin klammerte sich panisch an mir fest, weil er Angst hatte, ich würde ihn allein bei dem Schädel zurücklassen. Ich nahm seine Hand und dann rannten wir. Und rannten, bis wir in der Ferne endlich den Turm von St. Christophorus sahen.
    Ich schaffte es nicht, mit irgendjemandem über meine Entdeckung zu reden. Nicht mit Onkel Peter oder Tante Erika, nicht mit Wigbert, Hubert oder Bernhard und schon gar nicht mit Hildegard. Ich lag den ganzen nächsten Tag allein in meinem Deckenzelt und wartete. Lange konnte es ja nicht dauern, bis jemand den Schädel fand, schließlich hatte ich ihn nicht wieder eingegraben. Und dann würde es heißen, ich hätte ihn absichtlich kaputt gemacht mit meinem Spaten und an der einsamen Stelle an der Lippe schlimme Sachen mit meinem Bruder vorgehabt. Dann würde ich wirklich in ein Gefangenenlager kommen. Aber nichts passierte. Irgendwann tauchte Erwin mit Keksen und Kaba auf. Er überredete mich, mit ihm zu kicken. Es war komisch, ich hatte überhaupt keine Lust mehr, ihn abzuschießen. Ich wollte ihn auch nicht mehr mit einer Brennnessel widerstandsfähiger machen. Ich war einfach nur froh, dass er da war, mein Bruder. Abends gab es Spiegelei mit Kartoffeln und Spinat. Tante Erika merkte, dass irgendwas mit mir nicht stimmte, und lud meine Freunde zum Lagerfeuer in den Garten ein, um mich aufzuheitern.
    Wigbert war ein echter Feuerteufel. Er schleppte von überall her Holzkisten und Reisig an und hörte erst auf, als die Funken stoben und Löcher in mein Deckenzelt brannten. Aber das war mir egal, denn mir war etwas eingefallen. Als die anderen an langen Stecken Kartoffeln in die Glut hielten, fragte ich Bernhard im hintersten Eck des Gartens nach seiner Mutter.
    »Die haben gestritten«, sagte er, »sie und mein Vater. Deswegen ist sie allein zur Kirmes.«
    »Und dann?«
    »Keine Ahnung, irgendein Dreckskerl muss sie da weggelockt haben. Die einen glauben, dass er sie in die Lippe geworfen hat, die

Weitere Kostenlose Bücher