Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
vorführen?«
Evas Versuch, unschuldig zu klingen, misslingt. »Wie kommst du denn darauf?«
»Dir war es doch immer wichtig, was die Leute denken. Man soll uns ansehen und denken: Mutter und Tochter glücklich vereint. Eine heile Familie.«
»Was ist so falsch an einer heilen Familie?«
Elin ignoriert die Frage. »Wenn ich dir diesen einen Gefallen tue, lässt du mich dann wenigstens so lange in Frieden, bis ich mich bei dir melde?«
Zu Elins Erstaunen ist ihre Mutter einverstanden. Als sie dann gleich darauf im weißen Volvo bergan Richtung Stromberg tuckern, den turmhohen Pylon des Rasthofs wie ein Fingerzeig im Seitenspiegel, hat sie das Gefühl, die entscheidende Schlacht bereits verloren zu haben.
Evas Plan geht auf. Sie erreichen Stromberg gerade rechtzeitig, um mitzuerleben, wie die Monstranz durch das Tor im Paulusturm getragen wird. Das feierliche Glaubensbekenntnis entfaltet sich für sie wie eine Lobpreisung des Wunders selbst, das sie und ihre Tochter an diesem herrlichen Frühsommertag wieder zusammengeführt hat. Die Gesänge der Erstkommunikanten in ihren weißen Gewändern, der Weihrauch, das Schellengeläut der Ministranten, der Blumenschmuck – all das belebt ihren Glauben an die christliche Botschaft, daran, dass Auferstehung möglich ist, Auferstehung im Sinne von Erneuerung. Damit sind natürlich alle Menschen gemeint, aber heute ganz besonders sie und Elin: als Einheit. Ob ihre Tochter ähnlich empfindet, ist schwer einzuschätzen, sie wirkt verschlossen wie eh und je, ihre Hemmungen, anderen ins Gesicht zu blicken, sind eher größer als kleiner geworden, und das, obwohl sie doch einen eigenen Laden führt und sich daher von Berufs wegen eine gewisse Offenheit antrainiert haben müsste. Vermutlich ist ihr auch dabei ihre Arroganz im Weg. In einer großen Stadt wie Hamburg möglicherweise sogar ein Pluspunkt. Wohingegen in einer ländlichen Gemeinschaft Freundlichkeit gefragt ist. Mit anderen auszukommen, nicht aus der Rolle zu fallen, darauf kommt es an, das müsste auch Elin mittlerweile verstehen, alt genug ist sie ja inzwischen. Wenigstens lächelt sie von Zeit zu Zeit. Und immerhin erregen sie ein gewisses Aufsehen.
Auf der Freitreppe vor der Kreuzkirche, gesalbt im gleißenden Sonnenschein, steigt Eva das Wissen, einem bedeutenden Moment beizuwohnen, dermaßen zu Kopf, dass sie ihrer Tochter einen kühnen Vorschlag unterbreitet: »Du, wie wäre es, wenn wir dieses Jahr gemeinsam an der Wallfahrt teilnehmen?«
Elin sieht sie kopfschüttelnd an. »An der Wallfahrt? Hier?«
»Ja, natürlich«, sagt Eva mit einem Eifer, der ihr selbst ein wenig fiebrig erscheint, den sie jedoch nicht im Schach zu halten vermag. »Erinnerst du dich daran, was der Pfarrer gesagt hat? Man tritt zur einen Seite in die Kirche hinein und als neuer Mensch auf der anderen wieder hinaus. Als neuer, besserer Mensch, verstehst du? Hier hinein und dort drüben auf der Wiese wieder hinaus. Das ist es, was wir beide tun müssen.«
»Ich möchte jetzt lieber zurück zu meinem Wagen«, erwidert Elin.
Zu der einen Seite rein, auf der anderen raus. Ein besserer Mensch werden. Erneuerung. Während der Volvo einzelne Stationen des Kreuzwegs passiert – steinerne Heiligenbildnisse inmitten sattgrüner Natur –, rekapituliert Elin die Worte ihrer Mutter und wird dabei das Gefühl nicht los, einem wichtigen Detail auf die Spur gekommen zu sein. Eine schwache Erinnerung: In ganz jungen Jahren, nach der Scheidung ihrer Eltern und vor der zweiten Heirat ihrer Mutter, hat sie die Wallfahrt bereits erlebt. War Eva nicht damals schon geradezu besessen von der Vorstellung, ein besserer Mensch zu werden, indem man ein Gebäude nicht durch dieselbe Tür verlässt, durch die man es zuvor betreten hat?
Aus unerfindlichen Gründen – Nostalgie oder reine Verwirrtheit? – bittet sie Eva, nicht direkt den Rasthof anzusteuern, sondern stattdessen noch einmal auf Gut Nottbeck anzuhalten. Dort verweilen sie bis zum Einbruch der Dun kelheit auf dem Dichterfest. Während im Innenhof die Lichter angehen und die letzten Literaten zu Hochform auflaufen, steigen sie von Emsgold auf Rotwein um, was dazu führt, dass sie irgendwann doch über die Vergangenheit reden. Nicht etwa über Plöger. Es geht um die Zeit davor.
»Weißt du noch, wie wir in dieser kleinen Wohnung gewohnt haben?«, fragt Elin.
»Sicher weiß ich das noch.«
»Da hast du jeden Abend Rotwein getrunken.«
»Nicht jeden Abend.«
»Doch jeden Abend. Er hat genauso
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