Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
bin Gärtner, da wirft man nichts weg. Es kommt die Zeit, da kann man alles noch gebrauchen.
Auch Petras zweiundvierzig Postkarten habe ich aufbewahrt. Die erste kam vor über zwanzig Jahren. Geduld ist die Tugend des Gärtners. Der kleine Stapel Postkarten wird von einem weißen Gummiband zusammengehalten. Einzelne Karten haben nach so langer Zeit und dem häufigen Lesen einen ausgefransten Rand, als wären sie aus Stoff. Während der Bahnfahrt nach Lünen habe ich jede noch einmal gelesen. Karte für Karte, Kilometer für Kilometer hat sich eine Folie um meinen Brustkorb gewickelt, wie ich sie im Winter für die empfindlichen Pflanzen benutze. Erst jetzt wird es mir bewusst: Jede Karte war ein Hilfeschrei. Das Atmen fällt mir schwer.
Ein anderer hat an Petras Seite mein Leben gelebt. Ich hätte es sein sollen, aber es war Walter. Ich werde ihn umbringen. Erst wenn ich das getan habe, wird die Folie mich nicht mehr einzwängen. Es wird Frühling werden und ich werde aufblühen können.
In Münster bin ich das letzte Mal umgestiegen. Jetzt fährt der Zug der Eurobahn in Lünen ein. Ich versuche, Petra auf dem Bahnsteig zu entdecken. Selbst nach so langer Zeit bin ich überzeugt, sie wiederzuerkennen. Warum sollte sie nicht mehr die großen Schuhe tragen und die schweren Röcke wie Teppiche aus dem Orient. Die schwarzen Schuhe machten ein Geheimnis aus ihren Füßen. Ich glaube, es waren russische Militärstiefel, bis zu den Waden hochgeschnürt. Genau richtig für Gartenarbeit. Wie gern hätte ich sie ihr ausgezogen und ihre Füße ins Wasser gestellt. Aber so weit ist es nie gekommen. Die Öffnung der Grenze kam dazwischen.
Petra arbeitete in der Verwaltung der LPG – was das war, weiß heute kaum einer mehr. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Wir begegneten uns täglich. Ich suchte diese Augenblicke, obwohl ich ihren Freund Walter Benz kannte. Ein Kerl aus dem Nachbardorf. Alle nannten ihn nur Benz. Er schlug sie. An manchen Tagen kam sie mit blauen Flecken zur Arbeit.
Eines Abends im November vor über zwanzig Jahren, ich richtete gerade die Astern, da stand sie am Zaun. Sie lachte und weinte zugleich. Es dauerte eine Weile bis ich begriff, was sie mir sagen wollte: »Walter ist weg!«
Ich bat sie ins Haus, deutete auf ihre Stiefel. »Ich zieh sie dir aus.«
Sie nickte, setzte sich auf einen Küchenstuhl und ich kniete mich vor ihr nieder und löste die Schnürsenkel, zog sie Öse für Öse heraus. Es beruhigte sie und ich spürte ihre Hand in meinem Haar. »Er ist weg, nach drüben. Sofort abgehauen, als sich ihm die Möglichkeit bot.«
Ich weitete den ersten Stiefel und griff nach der Hacke, um ihn auszuziehen.
»Warte«, sagte sie. »Du weißt es noch nicht, nicht wahr?«
»Was?«
»Mach mal das Westfernsehen an.«
Ich ging zum Sofa ins Wohnzimmer und Petra folgte mir. Die offenen Schnürsenkel klopften den Takt dazu. Ich schaltete den Fernseher ein. Es war eine Direktübertragung von der Mauer in Berlin. Die Grenzen waren offen. Ab sofort durfte jeder DDR-Bürger ohne Antrag ausreisen.
»Walter ist sofort abgehauen«, wiederholte sie. Sie lehnte sich an mich und bekam einen neuen Anfall, bei dem sie zugleich heulte und lachte. Ich trocknete ihr die Tränen und küsste sie. Sie erwiderte meinen Kuss.
Erneut kniete ich mich vor sie, um ihr die Stiefel auszuziehen. Ich wusste, wenn ich erst einmal ihre Füße in mei nen Händen hielt, sie ins Wasser tauchen konnte, dann würde alles gut werden.
Ich zog an ihrem Stiefel. Petra neigte sich zur mir und küsste mich auf die Stirn. »Du bist süß.«
In diesem Moment klopfte es an die Tür, als würde jemand mit einem Hammer dagegenschlagen. »Mach auf, Rolf!«
Mein Nachbar stand mit seiner Frau vor der Tür. »Wir wollen mit dem Trabbi los. Du kommst doch mit?«
»Wo wollt ihr denn hin?«
»Einfach mal rüber.«
»Was soll ich denn da? Ich kenne da keinen. Und mein Garten ist hier.« Petra kam hinter mir an die Tür und erzählte ihnen, dass Walter auch gleich rübergemacht hätte. Meine Nachbarn luden uns beide ein, mitzukommen. Sie hätten ja noch zwei Plätze frei. Ich schüttelte den Kopf, aber Petra war sofort einverstanden und schnürte sich schon wieder die Stiefel zu.
»Ich komme ja wieder«, sagte sie, küsste mich auf die Wange und weg war sie.
Später erfuhr ich, dass sie unterwegs noch einen aus dem Dorf getroffen und eingeladen hatten. Er hieß auch Walter. Ich kannte ihn gut. In dieser Nacht waren sie so weit
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