Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
vor genau dieser Adresse. Es war ein Haus mit zehn Wohnungen und nur auf einem Klingelschild stand kein Name. Meiner Berechnung lag die Wohnung dazu im zweiten Obergeschoss rechts. Ich mogelte mich ins Haus, als eine Oma ihren Dackel Gassi führte und klingelte im zweiten OG rechts. Vielleicht war sie kein ängstlicher Mensch, vielleicht hatte ich nur einen günstigen Augenblick erwischt, denn sie öffnete ohne Argwohn und ich sah sofort, dass sie es war.
»Hülya Özcan?«
Jetzt wurde sie bleich. Sekunden später stand ein junger Mann hinter ihr. An der rechten Seite seines Halses verschwand eine großflächige Brandnarbe unter seinem Shirt und kam am rechten Oberarm wieder zum Vorschein. In diesem Augenblick lösten sich alle meine Fragen in einer glitzernden Wolke des Wissens auf.
»Ich glaube, Sie sollten mich besser hereinbitten«, sagte ich.
Ihr Tee schmeckte genauso köstlich wie der ihrer Schwiegermutter, und nachdem ich beide aufgeklärt hatte, erzählte sie ihre Geschichte.
»Mein Mann ist kein übler Kerl, aber er hätte mich niemals gehen lassen«, sagte Hülya zum Schluss. »Und ich hatte große Angst, ihn zu verlassen.«
»Und dann sind sie auf den Einfall mit dem Blut gekommen?«
»Nein, das war meine Idee«, sagte der Mann, den ich bisher nur als Tom kannte. »Weil es eben«, er stockte und sah nach unten, »weil es auf einmal ganz schnell gehen musste.«
Jetzt sah auch Hülya weg.
»Verstehe!«, sagte ich. »Wegen Andi.«
Die beiden fuhren wie auf Kommando zusammen. »Er hat uns überrascht, an unserer Stelle am See«, sagte Tom schließlich. »Da wo wir immer ein paar Minuten im Auto miteinander hatten. Er zerrte mich heraus und schlug sofort zu. Wir stürzten in den See, er war wie irrsinnig.« Er machte eine Pause. »Irgendwann hatte ich ihn und habe ihn unter Wasser gehalten, bis er sich nicht mehr rührte. Ich bin dann ans Ufer, weil ich selbst kaum Luft bekam. Als ich ihn wenig später herausziehen wollte, habe ich ihn in der Dunkelheit nicht mehr gefunden. Er war einfach weg, verdammt.«
»War es das wert?«, fragte ich.
»Die würden mich plattmachen, wenn sie von Hülya wüssten«, sagte er und es klang überzeugt. »Ich wollte es mir nicht kaputt machen lassen. Nicht das.« Er nahm Hülyas Hand. »Sie hat mein Leben gerettet, in jeder Weise, in der man ein Leben retten kann«, sagte er nach einer Weile und sah sie mit einer glühenden Ernsthaftigkeit an, die einen Gletscher geschmolzen hätte. »Und ich wusste es seit dem Moment, als sie mich zum ersten Mal berührte. Als gösse mir jemand ewiges Leben in die Seele.«
Ich ging zum Fenster und sah hinaus.
»Mein Auftrag ist es, Hülya zu finden«, sagte ich, »sonst wird jemand vielleicht für etwas büßen, das nie geschehen ist.«
Es entstand ein längeres Schweigen.
»Ich habe eine Idee«, sagte Tom.
Bei der Haftprüfung drei Tage später bestätigte der Richter die Untersuchungshaft gegen Hasan Demir wegen mehrfachen Einbruchs. Von dem Mordverdacht stand nichts mehr im Protokoll. Die DVD, die Hülya direkt an die Polizei und die Staatsanwaltschaft geschickt hatte und auf der sie eine Erklärung abgab, dass es ihr gut gehe und alles Theater gewesen sei, hatte alle überzeugt.
»Ich bin dir was schuldig!«, sagte Mark, als wir nach dem Termin auf dem Gang standen.
»Wie viel du mir schuldig bist, steht dann auf meiner Rechnung!«, sagte ich.
Auf dem Heimweg vom Gericht kaufte ich beim Türken auf der Kluser Straße etwas Lokum und ging ins Büro. Das Firmenlogo hing wieder schief, irgendetwas schien damit nicht in Ordnung zu sein. Ich brachte es in die Waage und hoffte, dass es dieses Mal länger hielt.
Vom Fenster aus sah ich auf den Treppenstufen des Rosengartens Kinder. Sie spielten Ich sehe was, was du nicht siehst.
War ziemlich süß, das Zeug.
Tag der Deutschen Einheit
Am 3. Oktober, dem ›Tag der Deutschen Einheit‹, feiert Gesamtdeutschland sich selbst. Der deutsche Nationalfeiertag erinnert an das ›Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland‹ am 3. Oktober 1990 – also die umgangssprachliche ›Wiedervereinigung‹. »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört«, hatte Willy Brandt dazu schon 1989 nach dem Mauerfall erklärt, als die DDR absehbar vor ihrem Ende stand. Von einer deutsch-deutschen Wiedervereinigung ganz anderer – mörderischer – Art erzählt der Hamburger Künstler und Autor Gunter Gerlach.
Gunter Gerlach
Lügen in Lünen
Ich
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