Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
waren. Ich hatte keinen Schimmer, ob der Mann, den Ruth Wunderlich ›Tom‹ genannt hatte, dabei war. Ich ging hinein, der Gastraum war leer. Nur der Wirt, der genau wie der Laden seine besten Zeiten lange hinter sich hatte, stand hinterm Tresen. Ich heuchelte eindeutiges politisches Interesse.
»Kleinen Augenblick«, sagte er nach einer Überprüfungspause und verschwand nach hinten. Ich folgte ihm und stand Sekunden später in einem Zimmer, dessen Wand die Reichskriegsflagge schmückte. Darunter saßen einige Typen an einem langen Tisch, hatten große Biere vor sich stehen und beäugten mich misstrauisch. Ich sagte einen falschen Namen und erzählte, dass ich für ein nationales Blog eine Story über den Tod des Kameraden aus dem Stausee schreiben wolle. Ich hätte den Tipp bekommen, Tom könne mir weiterhelfen. Ihre Blicke blieben misstrauisch.
»Was soll das für eine Scheißstory werden?« Der Wortführer hatte einen zackigen Haarschnitt und machte ein paar Schritte auf mich zu. In dem Moment fiel mir auf, dass diese Legende vielleicht nicht die beste Idee gewesen war. Er baute sich vor mir auf und ein paar andere stellten sich hinter ihn.
»Es geht darum, dass es vielleicht kein Unglücksfall gewesen sein könnte, dass …«
»Der krückt doch!« rief einer der anderen Schwachköpfe und bekam sofort Zustimmung. »Das ist doch ein Scheißschnüffler. Wer weiß, wo der herkommt.« Sie kamen noch etwas näher und ich läutete den Rückzug ein. Hier war nichts zu gewinnen, nicht jetzt und nicht in tausend Jahren.
Ich wartete im Wagen. Es war kurz vor Mitternacht, als sich der Rädelsführer zu Fuß auf den Heimweg machte. Ich rollte an ihm vorbei und wartete an der Hausecke. Meine Rechte traf ihn unvorbereitet. Ich drehte ihm den Arm auf den Rücken und drückte sein Gesicht an die Hauswand.
»So, du Führer in der Jämmerlichkeitsparade, du hast jetzt fünf Sekunden Zeit, mir zu sagen, wo ich Tom finde, genau fünf Sekunden.«
»Leck mich, du verd…« Der Rest des Satzes ging in einen Schmerzschrei über, weil seine Nase noch einmal Bekanntschaft mit der Wand machte. »Tom ist weg, verdammt noch mal«, gurgelte er, als er wieder Luft bekam.
»Was heißt das? Weg?«
»Na, eben weg, verdammte Scheiße! Seit die Geschichte mit Andi passiert ist, ist er spurlos verschwunden.«
»Andi ist der aus dem See?«
»Ja, verdammt noch mal, lass mich los.« Er stöhnte. Ich drehte ihn um und nahm ihn am Revers.
»Wenn du nicht artig bist, tu ich dir wieder weh, verstanden? Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?«
»Nein, hab ich nicht. Seine Wohnung ist ausgeräumt und gekündigt hat er auch. War sowieso komisch drauf die letzte Zeit.«
»Und er ist weg, seit Andi tot aus dem See gezogen wurde?«
»Ja.«
Ich ließ ihn laufen.
War dieses Timing ein Zufall? Ausgerechnet am Tag des Zuckerfestes sterben zwei Menschen und einer verschwindet. Und nach und nach wird klar, dass es zwischen den dreien eine eigenartige Verbindung gab.
Hülyas Schwester Hatice wohnte in einem Mehrfamilienhaus in Lüdenscheid Vogelberg. Ich erwischte sie am nächsten Morgen, als sie ihre Wohnung mit einem kleinen Koffer verlassen wollte. Sie hörte mich an und bat mich nach einem Zögern kurz hinein.
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte sie, als ich fertig war. »Hülya und ich hatten kaum Kontakt. Ich weiß gar nicht, wann wir zuletzt miteinander gesprochen haben.«
Von meinem Gespräch mit Ruth Wunderlich hatte ich ihr nichts erzählt und ich fragte mich, warum sie log.
»Dann will ich sie auch nicht länger aufhalten«, sagte sich. »Ich finde auch allein hinaus.« Im Flur hatte ich zwei Sekunden, um mich am Schlüsselbrett zu entscheiden, bevor sie mir folgte.
Ich wartete im Auto, bis sie Minuten später das Haus verließ. Dann ging ich zurück und hatte Glück. Der Schlüssel, den ich vom Brett gefischt hatte, passte. Ihren Rechner schützte ein Passwort. Der Speicher ihres Telefons enthielt zwanzig Einträge, eine Mobilnummer kam viermal vor, außerdem hatte sie vier Hamburger Anschlüsse angewählt. In der Tasche einer Jacke an der Garderobe fand ich einen Ausdruck über Bahnverbindungen zwischen Lüdenscheid und Hamburg für heute. Ein bisschen viel Hamburg, fand ich. Zum Schluss zog ich aus dem Mülleimer in der Küche den Fetzen einer Paketquittung, deren Rest nicht aufzufinden war. Der Name des Empfängers war abgerissen, aber seine Adresse war die Blankeneser Straße 34 in Hamburg.
Fünf Stunden später stand ich
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