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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grafit
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gefahren, wie der Trabbi mitmachte. Nach einer Woche reichte mir der Postbote eine Ansichtskarte über den Zaun. Lünen Hauptbahnhof. Manchmal sehen Bahnhöfe wie Rathäuser aus. Petra schrieb, sie seien bis Lünen gekommen und wohnten in der Jugendherberge. Die anderen hätten beschlossen zu bleiben. Petra wisse es noch nicht genau. Ich solle nachkommen, schrieb sie. Aber was sollte ich in Lünen? Wo lag das überhaupt?
    Es dauerte lange, bis die nächste Postkarte kam. Da wohnte sie bereits in einem Containerdorf im Stadtteil Brambauer. Ich solle ihr mal schreiben.
    Als Nächstes erhielt ich eine Heiratsanzeige. Petra und Walter grüßten als Brautpaar. Dann kamen jedes Jahr zwei weitere Postkarten, eine aus dem Urlaub und eine zu Weihnachten. In den letzten Jahren beklagte sie sich ganz direkt über Walter, fuhr allein in den Urlaub, wollte sich scheiden lassen. Er betrüge sie.
    Ich war nicht groß im Postkartenschreiben, aber ich wurde den Gedanken an ihre Füße nicht los. Ich schrieb ihr eine einzige Karte, über zwanzig Jahre nachdem sie weggefahren war: Komme am 3. Oktober. Tag der Wiedervereinigung. Gruß Rolf.
    Im letzten Moment fiel mir noch ein, meine Ankunftszeit auf den Rand der Karte zu schreiben.
    Ich hob fast mein gesamtes Geld von der Bank ab und kaufte mir zum ersten Mal in meinem Leben einen Koffer. Ich wusste nicht recht, was ich hineinpacken sollte. Schließlich packte ich ein, was mir das Liebste war: mein Gartenwerkzeug. Sicher hatte Petra einen Garten.
    Ich klettere mit meinem Koffer aus dem Zug und stehe auf dem Bahnsteig in Lünen mitten zwischen Reisenden, wie in einer Gruppe von Pinguinen am Rande der Eisscholle, noch will keiner springen. Doch dann taucht einer nach dem anderen die Treppe hinab. Niemand wird abgeholt. Petra ist nicht da. Vielleicht hat sie meine Karte nicht bekommen. Walter hat sie abgefangen. Vielleicht erwartet er mich in der Unterführung, sticht mich ab, bevor ich Petra begegnen kann. Er weiß wahrscheinlich, dass ich komme, hat Petra in der Wohnung eingesperrt. Dort steht sie jetzt am Fenster, streckt ihre Arme durch die Gitter.
    Ich gehe durch die Unterführung und verlasse das Bahnhofsgebäude. Da steht sie wie immer, schwenkt ihren Teppichrock. Die großen schwarzen Stiefel gucken unten heraus. Sie läuft mir in die Arme und lacht und weint zugleich, wie damals. Schließlich trocknet sie ihre Tränen an meiner Schulter und sagt: »Ist es nicht schrecklich?«
    »Alles wird gut.«
    »Aber dazu müssten wir ihn umbringen.«
    »Ich weiß.«
    »Du …«
    Sie lacht und weint wieder. Ich spüre durch den Stoff der Jacke ihre Tränen auf meiner Haut.
    »Wir ertränken ihn in deinen Tränen«, sage ich. Aber ich denke an all die Werkzeuge in meinem Koffer. Gut, dass ich sie eingepackt habe. »Hast du einen Garten, wo wir Walter begraben können?«
    Sie schüttelt den Kopf, zeigt auf ein Haus. »Da oben im vierten Stock wohnen wir. Kein Garten. Und in die Wohnung können wir auch nicht, da ist Walter. Ich habe ein Zimmer in einem Hotel gebucht.«
    Ich ziehe meinen Koffer durch die Einkaufsstraße hinter mir her. Die kleinen Räder daran knarren »Mörder, Mörder, Mörder« über das Pflaster aus roten Ziegeln. Auf der Brücke über der Lippe halten wir an und sehen ins Wasser. Es gibt zwar keinen Uferweg, aber ein Stück weiter führt eine Treppe hinunter.
    »Und wenn wir ihn einfach hier hineinwerfen?«, frage ich. »Dann geht’s ab bis in die Nordsee.«
    Sie schüttelt den Kopf. »Die Lippe fließt in den Rhein, bei Wesel.«
    Wir gehen weiter, werfen einen Blick auf ein schlichtes Haus mit vielen Fenstern.
    »Das ist das Rathaus«, erklärt sie. »Das höchste Gebäude der Stadt.«
    »Und von da oben runterstürzen? Da gibt es doch sicher eine Aussichtsplattform.«
    »Nee, da kann man nicht hoch. Ganz oben ist der Trauungssaal vom Standesamt.«
    »Seid ihr da oben …?«
    Sie nickt und die Tränen strömen schon wieder.
    Wir kommen an einer alten Kirche vorbei mit einem Dach wie eine Zipfelmütze aus Blech.
    »Gibt’s da nicht immer Gruften und Grabplatten, wenn da einer mehr drunter liegt, das fällt doch gar nicht auf?«
    Wir gehen in die Kirche, sie hat durch ihren fast rechteckigen Grundriss etwas Gemütliches. Keine Gruften. Ich sehe mir den dreiflügeligen Altar mit Szenen der Ermordung von Jesus an.
    »Ich dachte schon an ein altes Zechengelände«, flüstert mir Petra zu. »Aber dann habe ich gesehen, dass alle Hundebesitzer dort ihre Tiere ausführen. Da ist

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