Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
ein Café an der Lippe. Wir gehen noch einmal alle Orte durch, an denen wir Walters Leiche verschwinden lassen könnten. Petra ist für das Lippe-Wehr. Ich bin für das Doppelgrab auf dem Friedhof.
»Halbe, halbe«, sagt sie, »wir teilen ihn mit der Baumsäge.«
Sie bekommt wieder den Lachanfall, der sich sofort mit Tränen und Schluchzen mischt.
Ich stehe auf, gehe zur Kellnerin und zahle schnell. Draußen wird Petra wieder ruhig und ich bekomme Hunger. Sie kennt eine kleine Pizzeria um die Ecke.
Wir sitzen am Fenster zur Einkaufsstraße. Die Geschäfte haben geschlossen, es wird dunkel. Die Tomatensoße auf der Pizza sieht aus wie Blut.
»In einer Stunde ist hier draußen alles ruhig. Dann haben wir freie Bahn.«
»Ich muss noch im Hotel die Sichel und den Spaten holen.«
»Wenn wir ihn bei dem Wehr in die Lippe werfen, brauchst du nichts.«
»Und wenn er oben bleibt?«
»Es hat schon mehrmals funktioniert.«
Wir trinken noch eine Flasche Rotwein. Petra wirkt nüchtern, ich fühle mich angetrunken und mutig genug. Am Wagen lässt sie mich zurück, um die Sackkarre zu holen. Nach fünf Minuten kommt sie wieder und wir schieben das Teil auf den Rücksitz. Sie setzt sich wieder ans Steuer und fährt aus der Stadt.
»Wo willst du hin?«
»Zum Wehr.«
»Und Walter?«
Sie zeigt mit dem Daumen nach hinten. »Ist schon seit ein paar Tagen im Kofferraum.«
»Du hast ihn schon …?«
Sie nickt stumm.
Wir parken dicht an der Lippe. Auf dieser Straße ist niemand unterwegs. Ich öffne den Kofferraum. Es stinkt. Den Mann kenne ich nicht. Der Hals ist ihm durchgeschnitten, sein Hemd ist voller getrocknetem Blut.
»Das ist nicht Walter! Keiner von denen, die ich kenne.«
»Ist doch egal, der heißt auch so.«
Wir heben ihn heraus und legen ihn auf die Sackkarre. Petra bindet ihn fest, dabei bekommt sie wieder ihren typischen Anfall zwischen Lachen und Weinen.
Ich schaffe es, den Toten allein bis an die Lippe zu bringen und hineinzuschieben. Er schwimmt oben. Ich warte, bis ich glaube, dass er das Wehr erreicht hat und über die Kante in den Wirbel gestürzt ist. Sehen kann ich ihn nicht mehr.
Petra ist im Auto geblieben, sie starrt durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit. Ihr Gesicht glänzt.
»Wer war das nun?«
»Walter.«
»Welcher Walter?«
»Ein Walter.«
Ich nehme ein Papiertaschentuch und tupfe ihr das Gesicht, bis sie lächelt. Sie startet. Wir fahren zum Hotel.
Im Zimmer setzt sie sich aufs Bett und ich darf ihr die schweren Schnürstiefel öffnen. Öse für Öse ziehe ich die Senkel aus beiden Schuhen. Sie krault mir den Kopf und greift nach meinen Ohren.
»Endlich«, sagt sie.
»Endlich«, sage ich.
Dann ziehe ich ihr die Stiefel von den Füßen und ich begreife, warum die so schwer sind. Sie haben eine Stützkonstruktion. Es sind orthopädische Schuhe. Ihre Füße sind kleine weiße Flossen.
»Die Füße eines Engels«, sage ich. »Von jemandem der Flügel hat und deshalb nicht laufen muss.«
»Du bist süß.«
»Du solltest deine Füße jeden Abend ins Wasser stellen«, sage ich. Das Rezept eines Gärtners. Meine Hände erforschen ihren Körper. Für einen Moment befürchte ich weitere Überraschungen. Aber alles andere ist am richtigen Platz.
Am Morgen bringt sie mich zur Bahn. »Es muss Gras über die Sache wachsen«, sagt sie beim Abschied. »Dann kommst du wieder.«
Beim Kofferpacken habe ich meine Sichel nicht mehr gefunden. Ich bin voller Unruhe, rutsche auf meinem Sitz hin und her. In Dortmund steige ich in den Intercity. Ich denke daran, wie Petra damals vor über zwanzig Jahren zu mir kam, als ihr Freund verschwunden war. Sie lachte und weinte zugleich – genauso wie gestern. Er hieß Walter und ist nie wieder aufgetaucht. Und so ein Wehr haben wir auch – ganz in der Nähe unseres Dorfes.
Reformationstag
Der Reformationstag wird von den Protestanten am 31. Oktober gefeiert – zur Erinnerung an Martin Luther, der 1517 am Tag vor Allerheiligen der Überlieferung nach seine fünfundneunzig Thesen an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg nagelte und damit die Reformation einleitete. Heutzutage leitet man bei entsprechend günstiger Konstellation mit dem Reformationstag gern ein langes Wochenende ein. Dass das amerikanische Halloween auch auf den 31. Oktober fällt, weist nicht auf eine weitere Spaltung des Christentums hin, sondern ist reiner Zufall.
Raimon Weber
Halloween in der Hellweg-Bahn oder: Keiner kommt hier lebend raus
Es waren immer nur Männer.
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