Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
Waffe.
Sie muss nicht entsichert werden. Es reicht ein kräftiges Durchziehen des Abzuges.
Mir gelingen drei Schüsse. Abgefeuert in den breiten Rücken des katholischen Killerpsychopathen. Zu Feinarbeit bin ich nicht mehr in der Lage. Aber es kommt hier sowieso nur auf das Ergebnis an. Der Dreckskerl fällt.
Keine Frauen, keine Kinder!
Der Zug bremst.
17:25 Uhr, Soest
Ich bin tot, ehe er zum Stehen kommt.
Allerheiligen
Allerheiligen ist das christliche Fest, an dem am 1. November ›aller Heiligen‹ gedacht wird – auch derer, die nicht heiliggesprochen worden sind, und von denen niemand (außer Gott natürlich) etwas weiß. Allerheiligen ist ein ›stiller Feiertag‹, an dem ein strenges Verbot von Musik- und Tanzveranstaltungen gilt. Deshalb beginnt die Soester Allerheiligenkirmes, die Jürgen Kehrer als Kulisse für seine Story gewählt hat, auch erst am Mittwoch nach Allerheiligen mit dem traditionellen Fassanstich im Bayernzelt. Symbolfigur des neben der Cranger Kirmes größten Volksfestes Europas ist das Soester Jägerken, eine dem Simplicissimus nachempfundene Schelmenfigur, die die Kirmes repräsentiert.
Jürgen Kehrer
Der wahre Jäger von Soest
Es war eisig kalt auf der ›Wippe‹, ein paar Meter über dem Großen Teich. Der Jäger von Soest hockte auf der obersten Stufe des treppenförmigen, aus dem Mittelalter stammenden Foltergeräts. Er genoss die Stille und den klaren Sternenhimmel. In ein paar Tagen würde hier der Bär toben. Während der Allerheiligenkirmes machten die Soester die Nacht zum Tag, da ging niemand freiwillig ins Bett. Aber heute, an Allerheiligen, herrschte die Ruhe vor dem Sturm.
Mit der Kirmes würde seine große Stunde kommen. Als Jägerken gebührte ihm die Ehre, das Fest zu eröffnen, zusammen mit der Bördekönigin und dem Bürgermeister. Am Mittwoch um Punkt vierzehn Uhr im Bayernfestzelt. Das Ereignis, auf das er seit Jahren hinfieberte, ach was, nicht erst seit Jahren, zeit seines Lebens freute er sich schon darauf, irgendwann einmal das Jägerken sein zu dürfen.
Genau wie bei den meisten anderen Soestern hatte sein bewusstes Leben nämlich mit dem ersten Kirmesbesuch begonnen. Er erinnerte sich genau, wie er an der Hand seiner Mutter durch die lärmende, blinkende Welt der kreiselnden Monster gestolpert war, die plötzlich auf dem Marktplatz der Stadt entstanden war. Und wie ihm seine Mutter das Jägerken gezeigt hatte, diese Figur in ihrem grünen Jägerwams und mit dem eleganten Hut, die direkt einem alten Bilderbuch oder einem neuen Superheldencomic entsprungen zu sein schien.
»Das kannst du später auch mal werden«, hatte ihm seine Mutter ins Ohr geflüstert. In diesem Moment hatte er zum ersten Mal den unbändigen Wunsch verspürt, sich in das Jägerken zu verwandeln. Auch wenn er damals noch nicht die geringste Ahnung hatte, woher die Figur überhaupt stammte. Von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und seinem Simplicius Simplicissimus hörte er erst viel später, ebenso von dem geheimen Komitee, das jedes Jahr denjenigen auswählte, der als Jägerken auf der Kirmes und bei allen anderen Gelegenheiten auftreten durfte. Er selbst mochte die Bezeichnung Jägerken allerdings nicht so gern, sie verkleinerte die Bedeutung. Er sah sich als Jäger von Soest – als wahren Jäger. Denn in diesem Jahr hatte das Komitee endlich ihn bestimmt.
Seine Zähne klapperten. Plötzlich fühlte er sich unbehaglich. Was für eine dumme Idee von ihm, auf die Wippe zu klettern. Im Sommer, beim Wippen in den Großen Teich , mochte der Sprung ins kalte Wasser noch eine Gaudi sein. Begleitet vom Gejohle der Zuschauer, die sich zu Tausenden am Ufer drängten, hüpften auf dem Schützenfest im Juni zwei mehr oder weniger prominente Soester und ein Schützenbruder von der Wippe, um nach wenigen Schwimmzügen wieder ans Ufer zu klettern. Doch jetzt, im Winter, war der Sturz in den Teich sicher lebensgefährlich. Seine Kleidung würde sich sofort mit Wasser vollsaugen, bleischwer an den Armen und Beinen hängen. Wahrscheinlich würde er das Bewusstsein verlieren und hilflos auf den Grund sinken, ohne Chance, sich zu retten. Zwischen den Algen entdeckte man seine Leiche vielleicht erst nach Wochen. Oder nie.
Da, was war das? Ein Geräusch. Und ein Schatten am Ufer. Die Wippe begann, sich zu bewegen. Da war jemand! Er bekam Todesangst, wollte fliehen und war doch unfähig, auch nur eine Hand zu rühren. Die Wippe schwenkte jetzt weiter aufs Wasser hinaus, begleitet vom
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