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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grafit
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sein Körper diesen Lebensatem der Kirmes, um in Schwung zu kommen. Begreifen konnte das wohl nur, wer das Allerheiligenkirmes-Gen besaß. Er erinnerte sich an die Geschichten, die er als Jugendlicher aufgeschnappt hatte. Von den Leuten, die sich Im w ilden Mann die Zeit vertrieben, bis gegen drei oder vier Uhr morgens die letzte Fahrt der Alten Liebe ausgerufen wurde. Denn natürlich wollte jeder bei der letzten Schiffsschaukelrunde mitmachen. Überhaupt ging man damals nur ein Mal zur Allerheiligenkirmes, nämlich am Mittwochmittag, und kehrte erst am Sonntagabend zurück. Mittlerweile war um ein oder zwei Uhr nachts Sperrstunde. Leider.
    Der wahre Jäger schaute hinüber zur Milchbar , die dem Kirmestreiben die Rückwand zeigte. Milch wurde dort selbstverständlich nicht getrunken, sondern das Bullenauge, ein Mokkalikör mit einem Schuss Sahne. Bullenauge und Dudelmann (»Trinkst du den Dudelmann auf ex, hast du den allerbesten Sex«) waren die traditionellen Getränke der Kirmes – und zu anderen Zeiten auch nicht zu ertragen. Obwohl es angeblich Frauen gab, die das ganze Jahr Bullenaugen tranken. Aber das war ein anderes Thema.
    Zu gern wäre er jetzt zur Milchbar hinübergeschlendert, um sich ein Bullenauge auf ex zu genehmigen. Aber die Gefahr, dass er dort alte Bekannte traf, war zu groß. Das Risiko durfte er nicht eingehen.
    Noch nicht.
    Ersatzweise trank er eine Ampel , so ein neumodisches Schickimickizeugs. Dann ließ er sich auf einer schwenkbaren Scheibe herumschleudern und machte eine Fahrt in einem ultrahohen Kettenkarussell. Doch so schön, wie er ihn sich in der Fantasie ausgemalt hatte, war der Kirmesspaß nicht. Stets blieb der Platz neben ihm leer. Auf den anderen Sitzen drängten sich die Paare knutschend aneinander und er hockte da wie ein Penner mit Körpergeruch in einer überfüllten U-Bahn: einsam und verlassen.
    Nein, man ging einfach nicht allein auf die Allerheiligenkirmes. Wehmütig schielte der wahre Jäger zu den Grüppchen hinüber, die sich vor den Buden und Fahrgeschäften knubbelten und lauthals lachten. Seine Augen wurden feucht, beinahe hätte er angefangen zu heulen.
    Und überall Polizei. Er drehte sich weg, als ein Polizist mit Ziegenbärtchen an ihm vorbeikam. Und genau in diesem Moment sah er ihn: den falschen Jäger. Der falsche Jäger trug Zivil, Jeans und Pullover, trotzdem erkannte ihn der wahre Jäger sofort. Dieser Blender. Es schien ihm zu gefallen, dass sich eine ganze Gruppe von jungen Männern und Frauen um ihn drängte, als wäre er der Fixstern ihres Sonnensystems. Vor allem die Frauen warfen dem falschen Jäger bewundernde Blicke zu. Wenn sie wüssten …
    Der wahre Jäger biss sich so heftig auf die Lippe, dass sie aufplatzte. Leise fluchend saugte er an der Wunde, während er die Gruppe mit dem falschen Jäger verfolgte. Die bewegte sich quer durch die Altstadt, ständig Geschwindigkeit und Richtung ändernd. Wie ein Schwarm Fische auf der Flucht vor einem Hai.
    Der wahre Jäger ließ der Gruppe einen gehörigen Vorsprung. Denn obwohl alle reichlich getrunken hatten und nicht wahrzunehmen schienen, was um sie herum vorging, durfte er nicht leichtsinnig werden. Der richtige Zeitpunkt würde noch kommen, da war er ganz sicher.
    Der Moment, in dem er sich dem falschen Jäger entgegenstellen würde.
    Der falsche Jäger und seine Anhänger tauchten in die schwülwarme Luft der Bayernfesthalle ein. Auf der Bühne spielte eine bayerische Combo in Lederhosen, auf der Tanzfläche davor bewegten sich euphorisierte Menschen im Takt der volkstümlichen Klänge.
    Die Musik hörte auf, der Sänger nahm das Mikrofon in die Hand. »Kennt ihr meinen Lieblingsmarsch?« Ja, den Witz kannte der wahre Jäger schon. Und dann kam er prompt: »Das ist der Leck’s-mi-a’-M’arsch.«
    Stunde um Stunde verging. Der falsche Jäger und seine Freunde wurden immer betrunkener, der wahre Jäger, draußen in der Kälte, immer entschlossener. Anfangs hatte er nur mit dem Gedanken gespielt, aber jetzt wusste er, dass es in dieser Nacht passieren würde.
    Wie vorausschauend von ihm, die Luftdruckpistole eingesteckt zu haben, die er vor ein paar Tagen in der Wohnung entdeckt hatte. Eine Elite 50347, von einer echten Pistole kaum zu unterscheiden, schon gar nicht in der Dunkelheit.
    Die Clique des falschen Jägers löste sich auf. Zuerst verabschiedeten sich die Frauen, dann verschwanden die Männer, einer nach dem anderen.
    Der falsche Jäger blieb bis zum Schluss, gegen zwei verließ er

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