Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
auch nur einen Tag der Kirmes. Sie kamen sogar aus aller Welt in die Heimat zurück, um die fünf Tage zu feiern, schließlich war den Soestern die Kirmes heiliger als den Kölnern der Karneval.
Einige wenige gab es trotzdem, die vor der Kirmes flüchteten, nach Bad Sassendorf oder an den Möhnesee. Zugezogene, Alte, Herzkranke, Bewohner von Altstadtwohnungen inmitten des Trubels, auf deren Schlafzimmerfenster jede Nacht ein paar Hundert Mal die Gondel eines Fahrgeschäfts zuraste, bevor sie im letzten Moment, nur wenige Zentimeter von der Glasscheibe entfernt, die Kurve kratzte, begleitet vom ebenso regelmäßigen Kreischen der Passagiere. An Schlaf war da selbstverständlich nicht zu denken.
Aber der wahre Jäger von Soest war noch jung. Er brauchte während der Kirmes keinen Schlaf. Und so freute er sich, dass die Wohnung seines Gönners an einer der Kirmesstraßen lag und er die Arbeit der Schausteller beim Aufbau der Attraktionen verfolgen konnte.
Anfangs jedenfalls. Bis er merkte, dass etwas komplett schieflief. Niemand sein Verschwinden zu beachten schien. Die Medien ihn totschwiegen.
Es kam der Mittwoch, an dem die Kirmes eröffnet wurde. Der wahre Jäger sah die Bilder des falschen Jägers im Fernsehen. Er hätte kotzen können. Dieser Typ erdreistete sich, ihn überflüssig zu machen. Und ganz Soest spielte mit. Eine Gemeinheit!
Donnerstag. Pferdemarkt. Auch da hätte er dabei sein sollen. Seine Aufgabe wäre gewesen, gemeinsam mit der Bördekönigin und dem Bürgermeister die prominenten Gäste aus Politik und Wirtschaft durch den Krammarkt und die Landmaschinenausstellung zu führen. Früher hatte zwischen Bahnhof und Osthofentor noch ein echter Pferdemarkt stattgefunden, im Jahr 1953 drängten sich hier dreitausendfünfhundert Pferde. 1980 waren es gerade noch zwei. Eines davon kaufte ein Zeitungsredakteur, das sagte ja wohl alles.
Ein ähnliches Schicksal hatte das Bullenschätzen ereilt, in vergangenen Zeiten einer der Höhepunkte des Pferdemarktes, ja der Kirmes überhaupt. Wer das Gewicht eines lebenden Bullen am genauesten schätzte, heimste einen Preis ein. Doch irgendwann brachten die Bauern keine Bullen mehr zum Pferdemarkt. Wozu auch, es gab ja niemanden, der sie kaufen wollte. Inzwischen hatte man die Tradition in veränderter Form wiederbelebt, statt des Bullenschätzens gab es ein Pferdeschätzen mit Kaltblütern, die die Kirmesorganisatoren nur für den Donnerstag nach Soest karrten.
Auch wenn das Pferdeschätzen nur ein matter Abklatsch des Bullenschätzens war, der wahre Jäger von Soest hätte die prominenten Gäste gerne dazu animiert, für ein paar witzige Sprüche war er immer zu haben. Doch statt seiner hampelte auf dem Pferdemarkt sein betrügerischer Doppelgänger herum, der sich seine Jägerehre durch einen miesen, brutalen Trick ergaunert hatte. Wenn er daran dachte, kochte der wahre Jäger vor Wut. Er hätte diesen Aufschneider umbringen können, ja, das wäre die verdiente Strafe gewesen.
Freitag. Es stank. Als würde in der Wohnung etwas vermodern oder verwesen. Ein totes Tier vielleicht. Der Gestank kam eindeutig aus dem Badezimmer. Es war nicht zum Aushalten.
Draußen, vor den Fenstern, tobte die Kirmes, auf den Straßen und Plätzen amüsierten sich die Menschen. Und er saß hier fest, in diesem stinkenden Loch. Er musste raus. Es ging nicht anders. Aus Rücksicht auf das einfache Kirmesvolk hatte er mit seinem Auftritt eigentlich bis zum Sonntag, bis zum letzten Tag der Kirmes, warten wollen. Schließlich konnten die braven Kirmesgänger ja nichts dafür, dass sich die Verantwortlichen gegen ihn, den wahren Jäger, verschworen hatten. Erst am Kirmessonntag, so seine neue Idee, wäre er mit einem Paukenschlag in der Öffentlichkeit erschienen, hätte den Komplott entlarvt und zugesehen, wie man den falschen Jäger und seine Freunde davonjagte.
Aber so lange konnte er in dieser nach Verwesung müffelnden Wohnung nicht mehr ausharren. Nicht teilnahmslos hinter den Vorhängen am Fenster stehen und zusehen, wie draußen die Post abging.
Am Abend, die Dunkelheit war längst hereingebrochen, verließ er das Haus. Er trug eine Perücke und darüber eine Kapuze, die er sich tief ins Gesicht zog. Auf den ersten Blick würde ihn niemand erkennen.
Er begann seine Tour am Marktplatz. Vor dem Hotel Im wilden Mann sog er die nach gebrannten Mandeln, Zuckerwatte, Nikotin und Alkohol riechende Kirmesluft ein. Sofort spürte er, wie sich seine Stimmung besserte. Als bräuchte
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