Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
das Festzelt mit dem letzten verbliebenen Helfer an seiner Seite. Doch schon zwei Straßenecken weiter trennten sich ihre Wege.
Das Herz des wahren Jägers hämmerte. Endlich. Das Schicksal seines Widersachers lag jetzt in seiner Hand. Schnell blickte er sich um. Die wenigen Menschen, die sich noch auf der Straße befanden, waren vollauf damit beschäftigt, den Weg zu ihrem Bett zu suchen, die würden ihm nicht in die Quere kommen.
Mit einem kurzen Sprint war er bei dem anderen, drückte ihm die Pistole in die Seite.
»He, was soll das?« Der andere versuchte, ihn wegzuschieben.
Ein Schlag mit dem Pistolenlauf auf den Hinterkopf beruhigte den Betrüger. »Au, das tut weh!«
»Siehst du das?« Er hielt dem falschen Jäger kurz die Pistole vors Gesicht. »Damit kann ich dich abknallen.«
»Was …« Der Idiot riss die Augen auf und schnappte nach Luft, er hatte kapiert. »Was soll das?«
»Du hast mich bestohlen.«
»Ich?« Ein klägliches Lachen. »Wieso denn?«
»Der wahre Jäger von Soest bin ich. Du und dieses geheime Komitee, ihr habt mich um meinen Titel betrogen.«
»Das ist doch Unsinn. Ich war der einzige …«
Noch ein Schlag auf den Hinterkopf.
»Ja. Meinetwegen. Sie sind der wahre Jäger von Soest.«
»Du dachtest wohl, ich wäre ertrunken. Aber du hast es nicht geschafft, mich umzubringen.«
»Was? Wovon reden Sie da? Ich soll versucht haben, Sie umzubringen? Sie sind ja verrückt!«
»Du hast mich mit der Wippe in den Großen Teich geschleudert.«
»Nein, das habe ich ganz bestimmt nicht! Hören Sie, ich glaube, Sie brauchen Hilfe. Verstehen Sie? Hilfe!« Der andere schrie jetzt: »Hilfe!«
»Halt die Klappe!« Der Pistolenlauf im Mund brachte den Krakeeler zum Schweigen. »Und jetzt geh weiter!«
»Wo… hi…?«
»Zum Großen Teich.«
Heftiges Nuscheln und Kopfschütteln.
»Entweder du gehst oder ich drücke auf der Stelle ab.«
Das Argument zog.
Sie erreichten die Wippgasse, nur noch ein paar Schritte bis zum Großen Teich. Vor dem Gitter, das den Zugang zur Wip- pe versperrte, sträubte sich der falsche Jäger ein letztes Mal.
Dann war auch dieses Hindernis geschafft.
»Auf den Boden!« Er zog den angesabberten Pistolenlauf aus dem Mund des anderen.
»Nein. Bitte! Bitte nicht!«
Er hatte genug von dem Gejammer. Mit einem Tritt gegen das Standbein und einem Schlag in den Nacken brachte er den falschen Jäger zu Fall. Zusätzlich zur Pistole hatte er noch ein paar nützliche Dinge aus der Wohnung seiner Zufallsbekanntschaft mitgenommen, Kabelbinder zum Beispiel. Damit fesselte er die Hände des falschen Jägers auf dem Rücken. Und mit einem Stück Klebeband stopfte er ihm end- gültig das Maul. Anschließend hievte er ihn auf die Wippe.
»He, was machen Sie da unten?«
Verdammt. Das kam von oben, aus einer der Wohnungen oberhalb der Wippe.
»Lassen Sie den Mann los! Ich rufe die Polizei.«
»Seht ihr das da drüben?« Das kam von der anderen Seeseite.
Verdammt, verdammt, verdammt. Ihm lief die Zeit davon. Seinen Plan, den falschen Jäger ebenso langsam und grausam zu quälen, wie dieser das an Allerheiligen mit ihm gemacht hatte, musste er aufgeben. Aber er konnte ihn immer noch ins Wasser befördern, nur musste das schnell geschehen. Also hebelte er den falschen Jäger nach oben, zielte mit der Pistole auf dessen Kopf und drückte ab. Mehr vor Schreck als aufgrund der harmlosen Gummikugel fiel der andere von der Wippe und platschte ins Wasser. Blubbernd ging er unter.
Und jetzt nichts wie weg. Der wahre Jäger kletterte am Gitter vorbei zurück auf die Straße. Scheiße. Auf einmal waren da überall Menschen.
»Da ist er. Haltet ihn fest!«
Er versuchte wegzurennen. Aber die Leute stellten sich ihm in den Weg, grabschten nach seiner Kleidung, umringten ihn, schlugen auf ihn ein. Dann verlor er das Bewusstsein.
MORD WÄHREND DER ALLERHEILIGENKIRMES
Kranker Täter bringt Jägerken in seine Gewalt
Soest: In der Nacht zum Kirmessamstag kam es am Großen Teich zu einem spektakulären Mordversuch. Der an Allerheiligen aus der fo rensischen Psychiatrie in Münster entflohene Berthold S. (38) über fiel gegen zwei Uhr nachts den in diesem Jahr als Soester Jägerken amtierenden Christoph Schmidt (42). Offenbar aus Neid auf die von Schmidt verkörperte Figur schleppte der psychisch kranke Mann aus Münster den gefesselten Soester zum Großen Teich und katapultierte ihn mithilfe der Wippe ins kalte Wasser. Nur dem beherzten Eingreifen von späten Kirmesgängern, die sich
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