Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
wohl übrigens auch Faschinist!«
»Bitte was?«
»Entschuldige, Karnevalist!«
»Wer!?«
»Das arme Schwein, das den Vollkontakt mit dem Bus hatte. Detlev Woelke. Sechsunddreißig Jahre alt, ledig, wohnte noch bei seiner Mutter in Werne. Da wird übrigens auch Karneval gefeiert. Das würde zumindest erklären, warum Woelke diese Uniform getragen hat.«
Richard Joon blätterte die Tatortfotos durch. »Sandbraune Jacke und Hose, schwarzes Koppel und Schulterstücke … das Käppi kenne ich irgendwoher.«
»Ich sag dir auch woher!« Milleck drehte seinen Computermonitor zu Joon hin. »Louis de Funès als Der Gendarm von St. Tropez. Die Uniform gibt’s für zweihundert Euro im Internet.«
»Als Fetisch oder was?«
»Wenn du drauf stehst. Aber der Reihe nach – das ist ein einsames Stück Landstraße dort. Nicht weit von der Lippebrücke, nahe der Marina Rünthe. Der Bus bedient im Auftrag der VKU die Linie R 81 zwischen Unna und Werne. Die Fahrt gestern Abend wäre die letzte Verbindung in Richtung Unna gewesen«
Joon fischte sich zwei Zuckerwürfel aus der Blechdose auf seinem Schreibtisch und versenkte sie in seinem Kaffee. »Was ist mit den Fahrgästen? Zeugen? Verletzte?«
»Fehlanzeige.«
»Und der Fahrer? Was sagt der?«
»Nichts! Er ist weg, verschwunden, wie aufgelöst. Der Bus war leer. Das Fernlicht eingeschaltet, Scheinwerfer vorn rechts kaputt und voller Blut, der Motor aus, Türen verriegelt.«
»Der hat Panik bekommen und ist abgehauen.«
»Ja, sieht so aus.« Milleck kratzte sich am Kopf. »Hat sich aber bis jetzt nicht gemeldet. Oder der Polizei gestellt. Oder sich einem Anwalt anvertraut. Außerdem sprechen noch zwei weitere Dinge dagegen, dass es nur ein Unfall war.«
»Bitte, ich höre!«
»Die B 233 läuft an dieser Stelle schnurgrade. Es hat in der Nacht zwar ein bisschen genieselt, aber die Sicht war einwandfrei. Der Busfahrer hätte Woelke in seiner sandfarbenen St.-Tropez-Uniform selbst bei Dunkelheit schon von Weitem sehen müssen. Außerdem, und da legen sich die Freunde von der SpuSi fest: Woelke stand auf der Gegenfahrbahn und der Bus ist ganz offensichtlich rübergezogen, um ihn mit vollem Tempo frontal auf die Kiepe zu nehmen.«
»Kann aber trotzdem ein Unfall gewesen sein«, widersprach Joon und rieb sich das unrasierte Kinn.
»Unwahrscheinlich!«, sagte Milleck und schob Joon den Kartenausdruck der Unfallstelle hin. »Das eigentlich mysteriöse ist der Ort des Geschehens, nämlich hier an der B 233.« Er tippte auf die Stelle, die er mit einem Kreuz markiert hatte. Mit dem Finger fuhr er die Linie der Bundesstraße nach. »Aber die eigentliche Fahrtroute der R 81 führt hier entlang!« Milleck zeichnete nun die Form zweier Tangenten. »Und hier erst, an der Haltestelle Lessingstraße, trifft die fahrplanmäßige Route wieder auf die Bundesstraße, auf der unser Bus unterwegs war. Es gibt keine Hinweise, warum der Fahrer diese Abkürzung genommen hat – und er muss zudem darauf gesetzt haben, dass an den Haltestellen Gewerbepark und Kettelerschule sonntagabends sowieso keine Fahrgäste warten. Also, was sagst du?«
Kriminalhauptkommissar Richard Joon versenkte zwei Aspirin aus seinem Notvorrat im Kaffee und schob seinem Kollegen die Schlüssel ihres Dienstwagens hin. »Ich sage: Du fährst!«
Montag, 12.11.2012. Zwölf Uhr am Mittag.
Betriebshof der VKU, Lünener Straße, Kamen.
Trotz seiner gläsernen Fassade wirkte die Zentrale der Verkehrsbetriebe des Kreises Unna wie eine Trutzburg aus dem architektonischen Albtraumarchiv der Achtziger. Zwei wuchtige Betonplatten schirmten den Eingangssockel von dem aus verschiedenfarbigen Steinplatten zusammengeflickten Gehweg ab, der wiederum durch ein feuerverzinktes Stahlgitter vor dem Verkehr auf der Lünener Straße geschützt wurde. Die Fenster des VKU-Bunkers waren vermilchglast und die gesamte Anlage verströmte den Charme eines defekten Fahrkartenautomaten.
Uwe Packens Büro lag im zweiten Obergeschoss, mit Blick auf die großen Werkstatthallen des Betriebshofes. In einer Standvitrine neben dem akkurat aufgeräumten Schreibtisch des Betriebshofsleiters waren sorgfältig mindestens zwei Dutzend Modelle von Linienbussen aneinandergereiht.
Packen blickte hinunter auf das weiträumige Gelände seines Betriebshofes. »Wie lange muss ich auf die Halle 1 noch verzichten?«
»Bis wir den Bus wieder freigeben, Herr Packen!« Joon schnippte eine Süßstofftablette in die Tasse und bediente sich aus der silbernen
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