Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
Besucherkaffeekanne. »Uns geht es erst mal darum, den Busfahrer zu finden. Den Herrn Sandner, Dieter.«
»Wie schon gesagt, er ist nicht bei uns, sondern bei einem unserer Subunternehmer angestellt. Da kann ihnen der Kollege vom Betriebsrat … ah, da ist er schon!«
»Der Dieter war aber auch mal bei uns!« Ottmar Pauli wirkte mit seiner gedrungenen Gestalt und dem ausladenden Schnäuzer wie die Ruhrgebietsausgabe der polnischen Arbeiterikone Lech Walesa. »Das können Sie aber auch nicht wissen, denn das war noch vor Ihrer Zeit bei uns, Herr Packen.«
Montag, 12.11.2012. Ein Uhr am Nachmittag.
Auf der Fahrt von Kamen nach Werne.
Am Horizont ragte der schmutzigbraune Cityturm in den Himmel. Das sechzig Meter hohe ›Wahrzeichen‹ von Bergkamen symbolisierte wie kaum ein anderes Bauwerk den Niedergang der Region. Seit Jahren schon stand das fünfzehnstöckige Wohnhaus leer und verrottete. Eine Zeit lang schmückten die bunten Gartenhäuschenskulpturen eines Kölner Aktionskünstlers die Fassade, bis auch diese dem Verfall anheimfielen. Vielleicht hätte die einstmals größte Bergbaustadt Europas auf solcherlei ›künstlerische Aufwertung‹ verzichtet, wenn den Stadtoberen jemand verraten hätte, dass der für die Aktion importierte rheinische Kunstprofessor in seiner eigenen Stadt meist nur als ›Müllkünstler‹ tituliert wurde.
»Also …« Richard Joon malte dünne Kreise auf das beschlagene Beifahrerfenster ihres Dienstwagens. Der bislang herbstlich warme Novembertag hatte sie mit einem kurzen Regenschauer überrascht, der sich jetzt mit einem sanften Nieseln davonstahl. »… was glaubst du?«
Milleck zuckte die Schultern. »Vielleicht war es doch ein Unfall. Oder wenn dir das besser gefällt: ›fahrlässige Tötung infolge einer Trunkenheitsfahrt‹.«
»Du meinst, Sandner hatte einen Rückfall?«
»Zumindest war die Sauferei ja wohl der Grund, weshalb er damals von sich aus den Dienst bei der VKU quittiert hat. So hab ich jedenfalls unseren Barrikadenkämpfer vom Betriebsrat verstanden. Hör mal, malst du hier etwa Hammer und Sichel auf mein Fenster?«
Joon wischte die Scheibe sauber. »Wenn Sandner ein Quartalstrinker ist, wie unser Herr Pauli das andeutet, dann schießt er sich allenfalls in seiner Freizeit ab.«
»So wie du gestern bei deiner Karnevalsfete?«, bemerkte Milleck grinsend. »Weißt du, was mich wundert? Dass er überhaupt noch für die VKU fahren durfte. Da muss der Subunternehmer ein mächtig gutes Wort für ihn eingelegt haben. Oder einer bei den VKU war ihm was schuldig.« Milleck schaltete den Scheibenwischer an, der quietschend den Nieselregen mit dem Schmutz auf der Windschutzscheibe vermischte.
»Oder der Betriebsrat«, spekulierte Joon. Der Opel Vectra passierte die Stelle, an der gestern Abend der Gendarm von St. Tropez totgefahren worden war. Die Farbmarkierungen auf der Fahrbahn waren vom Regen schon fast weggewaschen. Ein dunkler, fast schwarzer Fleck auf dem Asphalt war das Letzte, was an Detlev Woelke erinnerte. Bergkamen lag längst hinter ihnen, die Gegend wurde jetzt zunehmend ländlicher. Vorbei an einem kleinen Reiterhof auf der rechten Seite zog sich links von der B 233 ein kleines Wäldchen bis zum Datteln-Hamm-Kanal und der Marina Rünthe hinauf. Im Sommer herrschte dort, im größten Sportboothafen von NRW, geschäftiges Treiben.
Die Lippebrücke bildete eine eigentümliche Grenze. Kaum überquert, änderte sich die Umgebung. Alles wirkte mit einem Schlag lieblicher, Licht und Farben erschienen satter, als hätte jemand mit einer lockeren Bewegung den grauen Schleier des Ruhrgebietes beiseitegewischt.
Als der graue Opel am Marktplatz in Werne ankam, tauchte eine gelbe Novembersonne die alten Fachwerkhäuser in einen malerischen Schein. Auf den mittelalterlichen Pflastersteinen lagen die Reste des feuchtfröhlichen Einläutens der diesjährigen Karnevalsaison: Scherben, kalte Pommes, hier und da erbrochene Erbsensuppe.
Montag, 12.11.2012. Viertel vor zwei am Nachmittag.
Wohnung von Magdalena Woelke, Kleine Burgstraße 2, Werne.
Dass ihr Sohn ein Nesthocker gewesen war, hatte Magdalena Woelke nie wirklich gestört. Er war das Einzige, was ihr nach dem Tod ihres Mannes 1992 geblieben war. Detlev war da mit grade sechzehn Jahren in einem Alter, in dem ein Junge eigentlich einen Vater braucht, der mit seinem Sohn Fußball spielt, anstatt Blut hustend jeden Tag ein bißchen weniger zu werden.
Das Zimmer ihres Sohnes wirkte immer noch wie ein
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