Kalifornische Sinfonie
beglückt die fallenden Tropfen auf ihren Händen. Sie konnte nichts anderes denken, als: Es regnet. Es regnet in Kalifornien. Sie konnte erkennen, daß der Regen die Erde vor dem Haus schon aufgerissen und die Spalten mit Wasser gefüllt hatte. Dann vernahm sie Stimmen; Oliver hatten Sturm und Regen nicht zu wecken vermocht, aber von der Dienerschaft war wohl dieser und jener erwacht. Sie hörte die Leute vor Freude lachen und hätte am liebsten mitgelacht.
Wann die Leute wohl den letzten Regen erlebt haben mögen? dachte sie. Vielleicht im April oder Mai. Oliver hatte gesagt, daß es nach Mai fast nie mehr regnete. Jetzt war November, nein, es mußte sogar schon Anfang Dezember sein. Sie hatte in all dieser Zeit so viel zu denken gehabt, daß sie auf den Ablauf der Tage kaum geachtet hatte.
Sie trat einen Schritt vom Fenster zurück. Einen Augenblick stand sie so regungslos, in Gedanken versunken. Der Regen rauschte. Er erinnerte sie an die rinnende Zeit. Der Frühling kam näher und mit ihm die Heimfahrt, der große Ost-Treck. Und dann, ganz plötzlich, blitzte in ihr die Erkenntnis auf, daß der Kalender für sie keine Gültigkeit mehr hatte, daß für sie ein anderer Kalender galt.
Sie zitterte vor Kälte und jähem Entsetzen. Die Ärmel ihres Nachthemdes waren durchnäßt, und ihre Brüste schmerzten, als würden sie geschlagen. Sie flüsterte mit beinahe tonloser Stimme: »Ich bekomme ein Kind!«
Die Erkenntnis war ihr so jäh wie der Regen gekommen. Wie war es nur möglich, daß sie das nicht früher bemerkt hatte? Sie war immer so gesund gewesen, unter Kopfschmerzen hatte sie nie zu leiden gehabt. In der letzten Zeit hatte sie mehrmals Anfälle von Übelkeit gehabt. Sie hatte das auf die Aufregungen und Ärger mit Charles zurückgeführt.
Zitternd kroch sie ins Bett zurück und wickelte sich in die Decken. In der Dunkelheit vermochte sie Olivers Kopf neben sich auf dem Kissen zu erkennen. Soll ich ihn wecken? dachte sie; soll ich es ihm sagen? Oder soll ich bis zum Morgen damit warten? Wie wird er es aufnehmen? Wird er sich freuen?
Und dann durchzuckte sie wieder jäher Schreck. Sie flüsterte tonlos vor sich hin:
»Ich kann es ihm nicht sagen.«
Die Dinge lagen einfach genug. Sie durfte es Oliver nicht sagen. Sie durfte es überhaupt keinem Menschen sagen. Wenn Charles herausbekäme, daß sie ein Kind erwartete, würde er unausgesetzt Nutzen aus dieser Tatsache ziehen, und Olivers Zärtlichkeit für sie würde ihm dabei noch Hilfsdienste leisten. Er würde Oliver ohne weiteres davon überzeugen, daß sie die große Reise nach Osten in diesem Zustand unmöglich durchhalten könne. Und im nächsten Jahr würde er sagen, daß ein so kleines Kind natürlich nicht mit dem Treck ziehen könne. Und so würde es dann endlos weitergehen; sie würde für ihr ganzes weiteres Leben hier auf Strand gesetzt sein. Garnet ballte die Fäuste. Sie wollte nach Hause! Aber dann dachte sie an die Mühseligkeiten, an die Strapazen und Entbehrungen des großen Trecks, an all das Furchtbare, das sie in kräftigem und gesundem Zustand kaum ausgehalten hatte. Mein Gott! dachte sie, von jäher Panik geschüttelt, warum mußte mir das gerade jetzt geschehen?!
Ich hätte es nicht dahin kommen lassen dürfen, dachte sie in halbem Wahnsinn. Es hätte Mittel und Wege geben müssen, das zu verhüten. Florinda beispielsweise wußte in solchen Fragen sicherlich Bescheid. O Gott! warum hatte sie nur nicht so viel Verstand aufgebracht, Florinda zu fragen, solange sie noch die Gelegenheit dazu hatte?
Wird es genügen, wenn ich schweige? dachte sie. Wird sich nicht meine Figur schon sehr bald so verändern, daß man es sieht?
Sie wußte es nicht. Aber sie war entschlossen, ihren Zustand zu verleugnen, solange es irgend möglich war. Das Kind würde – sie überschlug schnell die Monate – im nächsten August geboren werden. Dann würde der Treck irgendwo in der Prärie sein, noch nicht sehr weit hinter Independence. Das Kind würde in einem Planwagen zur Welt kommen. Das störte sie nicht. Berge und Wüsten und Trockenheit und Schlammlöcher – das alles waren kleine Unbequemlichkeiten, verglichen mit der Aussicht, ihr ferneres Leben hier verbringen und jahrein, jahraus gegen Olivers Abhängigkeit von Charles kämpfen zu müssen. Nein, nein, nein – nichts und niemand konnte sie dazu veranlassen, länger in Kalifornien zu bleiben.
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Florinda schrieb einen Brief. Sie schrieb schon seit mehreren Tagen
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