Kalix - Die Werwölfin von London
getrunken, um ihre Sucht zu stillen. Der Kampf mit den Jägern hatte ihre Laune gebessert. Sie fühlte sich gut, bis auf ... bis auf was?
Die junge Werwölfin setzte sich hin und blickte auf das Wasser. Etwas nagte an ihr. Nicht die allgegenwärtige Sehnsucht nach Gawain. Auch nicht die schlimmen Erinnerungen an ihre Kindheit
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in der Burg, die sie manchmal überwältigten. Etwas anderes. Kalix wurde klar, dass sie sich einsam fühlte. Sie zuckte mit den Schultern. Sie war immer einsam. Oder nicht? Als sie das Gefühl ergründen wollte, konnte sie nicht genau sagen, ob sie sich wirklich immer einsam fühlte. Normalerweise war sie krank oder lief fort und versteckte sich. Jetzt war sie in der seltenen Lage, sich gesünder zu fühlen, und schien etwas mehr Zeit zu haben, auf ihre Gefühle zu achten.
Sie dachte, sie wäre vielleicht wirklich einsam.
Kalix blickte hinab auf ihr neues Amulett. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass es schwierig gewesen sein musste, es für sie zu besorgen. Kalix war nicht sicher, wer dafür gesorgt hatte, dass sie es bekam. Thrix? Oder die Feuerkönigin? Moonglow? Beim Gedanken an Moonglow spürte sie so etwas wie Bedauern, dass sie sie geschlagen hatte. Kalix war in Panik gewesen, aber sie wusste, dass ein Mensch das nicht verstehen würde. Was bedeutete, dass sie nicht zurückgehen konnte. So war ihr Leben nun mal. Wohin Kalix auch ging, sie war dort nie wieder willkommen.
Kalix nahm an, wenn sie Moonglow noch einmal treffen würde, müsste sie sich entschuldigen, und das würde sie auf keinen Fall tun, schon gar nicht bei jemandem, der sie in einem schwachen Moment zum Essen gebracht hatte.
Kalix wurde richtig wütend. Für wen hielt dieses Mädchen sich eigentlich, ihr einfach Essen in den Rachen zu stopfen? Kalix knurrte. Moonglow war genauso schlimm wie alle anderen. Andererseits hatte sie ihr eine Wärmflasche gebracht, damit sie es nachts warm hatte. Von welchem Standpunkt aus Kalix das auch betrachtete, es wirkte wie eine freundliche Geste.
Die Werwölfin runzelte die Stirn. Daniel hatte mit ihr über Joan Jett geredet.
Das hatte ihr gefallen. Sie hätte gern noch mehr Platten von den Runaways gehört. Als sie ihre Lieblingskassette der Band anhören wollte, war die Batterie in ihrem Walkman leer. Sie beschloss, die Nacht über zu bleiben, wo sie war.
Am Ufer war es ruhig, und niemand würde sie stören.
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Moonglow verbrachte in der Universität einen anstrengenden Nachmittag mit sumerischer Geschichte und Keilschrift. Danach besuchte sie ein Seminar über den Kodex Hammurabi, der, wie sie sich interessiert anhörte, als erste Gesetzessammlung niedergeschrieben wurde. Nach den Vorlesungen und dem Seminar wusste Moonglow, dass die größte Stadt im alten Sumer Ur hieß, dass die Strafe für Ehebruch zur Zeit von Hammurabi vier Ziegen betrug und dass die Keilschrift, die irgendwo zwischen Hieroglyphen und einem Alphabet rangierte, sehr schwer zu lernen war.
Sie verfolgte wie immer konzentriert die Vorlesungen, nur einmal fiel ihr auf, dass ein Mädchen ein paar Reihen vor ihr eine gelbe Bluse trug. Das erinnerte sie an die gelbe Bluse, die Markus angezogen hatte. Eine sehr seltsame Situation. Moonglow fand immer noch, dass er attraktiv ausgesehen hatte.
Es dämmerte langsam, als Moonglow die U-Bahn nach Hause nahm. Die Stelle an ihrer Schulter, wo Kalix sie getroffen hatte, tat weh. Jedes Mal, wenn Moonglow daran dachte, ärgerte sie sich. Nachdem sie Kalix das Leben gerettet hatte, hatte sie nicht verdient, von ihr angegriffen zu werden. Sie versuchte, ihren Arger zu verdrängen. »Kalix ist noch jung. Sie hat ein schweres Leben«, dachte sie. Mit neunzehn war Moonglow nur zwei Jahre älter als Kalix, aber irgendwie kam ihr das Mädchen viel jünger vor.
Daniel war guter Laune, nachdem er den Nachmittag auf dem Sofa verschlafen hatte. Wie meistens bot er Moonglow an, ihr Tee zu kochen. Moonglow legte ihre Tasche auf den Tisch und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
»Keilschrift ist einfach schrecklich«, sagte sie.
»Natürlich«, stimmte Daniel ihr zu. »Man muss verrückt sein, wenn man glaubt, man könnte das lernen. Kekse?«
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Moonglow nickte, und Daniel ging in die Küche. Wenig später kehrte er mit nachdenklicher Miene zurück.
»Durch unseren Hinterhof tollt eine Werwölfin.« »Sie tollt?«
»Ja. Na ja, vielleicht tollt sie nicht gerade. Aber zumindest springt sie fröhlich herum.«
Moonglow lief rasch in die Küche und spähte aus dem
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