Kalla vom Loewenclan - Abenteuer in der Steinzeit
dem Sonnengeist nahe stehen und sich daher freundschaftlich gesonnen sind. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein solcher Kampf jemals stattgefunden hat.«
Die Löwenleute nickten. Es gab Geister, die sich nahe standen, wie etwa der Steinbockgeist und der Hirschkuhgeist. Andere waren einander eher feindlich gesinnt wie der Rindergeist und der Mammutgeist.
»So soll die Sonne den Kampf entscheiden«, entschied Irinot. »Morgen werden wir Tavilana bestatten. Am Tag danach, wenn die Sonne am höchsten steht, werden wir hierherkommen und sie bitten, ihr Urteil über die Fremden zu fällen.«
DER LUCHSMANN
I n der folgenden Nacht regnete es, und am Morgen hing ein feuchter kalter Nebel über dem Otterbachtal. Als er sich am Mittag zu lichten begann, kam ein bleigrauer Himmel zum Vorschein. Dazu blies ein kalter Wind. Der Sommer schien sich endgültig verabschiedet zu haben.
Kalla saß vor der Höhle und versuchte zum wiederholten Mal, mit einer Flintspitze ein Loch in ein Schneckenhäuschen zu bohren. Ab und zu hielt sie inne und sah sich um. Die Männer hatten sich zurückgezogen, die Frauen waren alle bei der Arbeit.
Auch in Mutter Sinas Höhle waren alle beschäftigt. Ixi hatte ihr Kind gestillt und hockte jetzt auf der Terrasse, neben sich einen Haufen Rentierknochen. Einen nach dem anderen schabte sie die Knochen gründlich ab, bis auch die letzte Fleischfaser entfernt war. Mutter Sina und Yonnahatten geschnittene Fleischstreifen in die Vorratskammern geschafft und dort zum Trocknen gelagert. Dann hatten sie drei große Holzrahmen zum Eingang geschleppt. Jeder von ihnen bestand aus vier kräftigen langen Holzstangen, die an den Enden mit Schnüren zusammengebunden waren. Dazwischen verliefen sternförmig viele dünne Schnüre. Solche Holzrahmen wurden dazu benutzt, Tierhäute und Felle zum Trocknen aufzuspannen. Mit großer Sorgfalt überprüfte Mutter Sina die Stangen und ersetzte die Schnüre, die sich gelockert hatten oder spröde geworden waren, durch neue. Yonna nahm sich inzwischen den letzten Rentierdarm vor. Sie hatte ihn gründlich gereinigt und ausgewaschen und dann mit Fett gefüllt. Nun drückte sie den gestopften Darm kräftig zusammen und drehte ihn in kurzen Abständen, sodass kleine Würste entstanden.
Kalla fröstelte und sah verstohlen zum Hyänenbuckel hinauf. Den ganzen Tag hatte niemand im Löwenclan den bevorstehenden Kampf zwischen Agal und Mauk erwähnt. Doch der Gedanke an den morgigen Tag war allen so gegenwärtig wie die dicken bleigrauen Wolken am Himmel. Dazu kam die Trauer um Tavilana. Zwar war sie sehr lange krank und ihr Fortgehen absehbar gewesen, doch war sie eine ungewöhnlich starke Frau gewesen. Sie war eine direkte Nachfahrin der Ahnmutter Kiona und hatte viele Jahre lang selbst das Amt der Clanmutter innegehabt, bevor sie es an ihre Tochter Sina weitergab. Aber auch danach hatte sich der Clan immer wieder um Rat an sie gewandt, und so hinterließ ihr Tod eine spürbare Lücke. Daher hatten sich alle bemüht, den Abschied von Tavilana so würdig wie möglich zu gestalten. Noch am Vorabend waren die Männer zum westlichen Ende des Felsmassivs gegangen. Dort war über dem Erdboden eine breite Felsplatteherausgebrochen, sodass ein breiter, mannshoher Spalt in der Steinwand entstanden war. Dahinter hatte sich ein flacher Felsenkeller gebildet, der als Grab für die Verstorbenen des Löwenclans genutzt wurde. Um die Gräber vor Tieren zu schützen, hatten die Männer schwere Felsbrocken vor den Eingang geschoben. Sie wurden nur entfernt, wenn eine Beisetzung stattfand. Das letzte Grab war ausgehoben worden, als Meas Lebensgefährte Luf vom Hinterfuß eines Zwölfenders tödlich getroffen worden war. Neben Lufs Grab hatten die Männer nun eine weitere Erdgrube ausgehoben und mit Steinen eingefasst. Am Morgen dann hatten sich die Löwenleute aufgemacht, um Tavilana auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Mit dumpfen Trauergesängen waren sie zum Felsenkeller gewandert und hatten die Tote in das Grab gelegt. Sie lag auf der linken Seite, die Knie fast bis zum Kopf angezogen. Die lange Krankheit hatte die alte Frau derart ausgezehrt, dass sie klein wie ein Kind geworden war. Auf ihrer Brust lagen das Clanamulett – ein Lederband, an dem ein Stück Löwenfell und zwei Löwenzähne befestigt waren – und das Schutztierzeichen, das sie ihr Leben lang getragen hatte: ein schmales Band aus Eulenfedern.
Dann hatten sich alle zum Totenmahl um das Grab gesetzt. Die Frauen hatten die
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