Kalle Blomquist
weitergehen. Kein Flehen half. Vergeblich bettelte Eva-Lotte – vielleicht lag die Hütte schon ganz in der Nähe, sagte sie, vielleicht brauchten sie nur noch ein kleines, kleines Stück zu gehen!
»Ich will nicht«, sagte Rasmus, »meine Beine sind so schläfrig.«
Einen Augenblick lang überlegte Eva-Lotte, ob sie den Tränen, die irgendwo in ihrer Kehle bereitsaßen, freien Lauf lassen sollte. Dann biß sie die Zähne zusammen. Sie setzte sich auch, lehnte den Rücken an einen großen Stein und zog Rasmus an sich.
»Setz dich zu mir und ruh dich ein wenig aus, Rasmus«, sagte sie.
Mit einem Seufzer streckte sich Rasmus in dem weichen Moos aus und legte seinen Kopf in Eva-Lottes Schoß. Müde blinzelte er Eva-Lotte an. Es sah aus, als habe er die Absicht, sich nie mehr von der Stelle zu rühren. Eva-Lotte dachte: Laß ihn ein Weilchen schlafen, dann geht es nachher sicher besser vorwärts! Sie nahm seine Hand, und er überließ sie ihr, ohne etwas zu sagen. Dann begann sie, ihm etwas vorzusingen. Er versuchte zwinkernd, die Augen aufzubehalten, und folgte mit den Blicken einem Schmetterling, der über den Sträuchern da-hinschwebte.
»Blaubeeren wachsen in unserem Wald, Blaubeeren …« sang Eva-Lotte leise.
Aber da protestierte Rasmus. »Es wäre besser, wenn du singen würdest: Gebratener Speck wächst in unserem Wald, gebratener …« Und dann schlief er ein.
Eva-Lotte seufzte. Sie wünschte, auch schlafen zu können.
Sie wünschte einzuschlafen und dann zu Hause in ihrem Bett aufzuwachen, um zu entdecken, daß all das Furchtbare nur ein Traum gewesen war. Voller Sorge und unruhig saß sie da und fühlte sich sehr, sehr einsam.
Da hörte sie in der Entfernung Stimmen. Stimmen, die sich näherten und die sie kannte, und kurz danach den Laut von zer-brechenden Ästen, die jemand zertrat. Daß man einen solchen Schreck bekommen konnte! Ohne davon zu sterben! Nein, man starb nicht, wurde vom Schreck nur so gelähmt, daß man kein Glied rühren konnte und nur fühlte, wie das Herz wild und quälend in der Brust trommelte. Es waren Nicke und Blom, die zwischen den Bäumen näher kamen. Dieser Svanberg war sicher auch dabei.
Es gab nichts, was sie hätte tun können. Rasmus schlief. Sie konnte ihn nicht wecken und davonlaufen. Damit war nichts erreicht. Weit würden sie nicht kommen. Man konnte also ebensogut sitzenbleiben und abwarten, daß man gefangen würde.
Jetzt waren sie so dicht herangekommen, daß Eva-Lotte verstehen konnte, was sie redeten.
»Noch nie habe ich Peters so rasend gesehen«, sagte Blom.
»Und das wundert mich gar nicht. Du bist eine ziemliche Nuß, Nicke.«
Nicke brummte. »Das war dieses Mädchen«, sagte er. »Mit der möchte ich jetzt mal ein passendes Wörtchen reden. Warte nur, bis ich sie erwischt habe.«
»Das kann ja nicht mehr so lange dauern«, meinte Blom.
»Auf der Insel müssen die beiden ja noch sein.«
»Sei nur ruhig«, sagte Nicke. »Ich werde sie schon finden, und wenn ich jeden Busch einzeln durchsuchen sollte.«
Eva-Lotte schloß die Augen. Zehn Schritte waren sie noch von ihr entfernt, und sie wollte sie nicht sehen. Sie hielt die Augen geschlossen und wartete. Wenn sie sie doch nur schnell packen würden, dann konnte sie doch endlich losweinen – darauf hatte sie schon so lange gewartet.
Sie saß, mit dem Rücken an den großen moosbewachsenen Stein gelehnt, hielt die Augen geschlossen und hörte hinter diesem Stein die Stimmen. So nahe! Bald darauf nicht mehr ganz so nahe, gar nicht mehr so nahe.
Gingen sie fort? Schwächer und schwächer wurden die Stimmen, bis sie schließlich nicht mehr hörbar waren und es so verwunderlich still um sie her wurde. Nur ein kleiner Vogel zwitscherte einsam in einem Busch. Lange, lange saß sie im Moos. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie wollte nur noch sitzenbleiben, ohne jede Bewegung, und sich in diesem Leben nichts mehr vornehmen.
Schließlich wachte Rasmus auf, und Eva-Lotte begriff, daß sie sich zusammennehmen mußte.
»Komm jetzt, Rasmus«, sagte sie, »wir können nicht länger hier sitzen bleiben.«
Unruhig sah sie sich um. Die Sonne schien nicht mehr. Gro-
ße, dunkle Wolken segelten am Himmel dahin. Es zog sich wohl zu einem Abendregen zusammen. Die ersten schwachen Tropfen fielen bereits.
»Ich will zu meinem Vati«, sagte Rasmus. »Ich will nicht mehr im Wald bleiben, ich will zu meinem Vati gehen!«
»Wir können jetzt nicht zu deinem Vati«, sagte Eva-Lotte verzweifelt. »Wir müssen
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